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Über die samische Kultur wird nur selten im Kino erzählt. Amanda Kernell widmet sich in ihrem Coming-of-Age-Film nun einem Mädchen, das im Schweden der 1930er Jahre mit 14 Jahren erkennen muss, dass sie sich selbst verleugnen muss, um einen eigenen Weg im Leben zu finden.

Das Mädchen aus dem Norden (2017)

Eine Filmkritik von Sonja Hartl

Die Last der Tradition

Manchmal dauert es ein wenig, bis ein Film seinen Weg hierzulande ins Kino findet. Amanda Kernells „Das Mädchen aus dem Norden“ war bereits 2016 auf dem Filmfest Hamburg zu sehen – und nun erst bringt der engagierte temperclay-Verleih ihn in die Kinos. Aber das Warten hat sich gelohnt, denn dieser Film erzählt ebenso einfühlsam wie aufwühlend eine hochinteressante Geschichte.

Innerhalb des fiktionalen skandinavischen Kinos wird die Rolle und Geschichte der Sami selten thematisiert, auch in der schwedischen Gesellschaft ist über die Samen nur wenig bekannt. Amanda Kernell – Tochter eines samischen Vaters und einer schwedischen Mutter – widmet sich ihr nun aber dezidiert aus der Perspektive einer Familie, in deren Mittelpunkt die Großmutter Christina (Maj-Doris Rimpi) steht. Mit ihrem Sohn und ihrer Enkeltochter ist sie auf dem Weg zur Beerdigung ihrer jüngeren Schwester. Aber eigentlich will die alte Frau nicht zurück in die Region, aus der sie einst fortgegangen ist. Sie will nicht damit konfrontiert werden, welchen Preis sie für ihr Leben bezahlt hat. Doch in den 1930er Jahren hat sie Lappland den Rücken zugekehrt und ist mit 14 Jahren nach Uppsala gegangen. Damals wurde aus Elle Marja Christina – und seither hat sie ihre samischen Wurzeln so gut es geht ignoriert.

 

Mit ihrer Rückkehr kommen die Erinnerungen, eingefasst in einer Rückblende. Hier wird von einem Leben in der rauen Bergwelt erzählt, das vor allem aus Familie und den samischen Traditionen besteht, zentral ist hier die Zucht von Rentieren. Unterricht erhalten die samischen Kinder in einem Internat, das sie auf Geheiß und Zwang der schwedischen Regierung besuchen müssen. Aber sie erhalten nicht den Unterricht, den schwedische Kinder bekommen, sondern er beschränkt sich auf Grundkenntnisse und vor allem das Erlernen der schwedischen Sprache. Es ist ihnen strikt untersagt, in ihrer eigenen Sprache zu sprechen. Auch eine Zukunft außerhalb des Lapplands ist nicht vorgesehen. Vielmehr erklärt eine Lehrerin, dass die Samen für ein städtisches Leben schlichtweg nicht geeignet seien.

In dieser Schule spiegelt sich die gesellschaftliche Diskriminierung und der Rassismus wider, der die Samen ausgesetzt waren – und zum Teil noch sind. Sie werden als minderwertig angesehen, von Dorfkindern als dreckig beschimpft, vorgeführt und ausgestellt in ihren Trachten und Traditionen. Doch durch eine Lehrerin begegnet Elle Marja auch Literatur und beginnt zu ahnen, dass es ein anderes Leben geben muss. Sie will mehr – und das verbindet sie mit vielen Teenagern, die sich selbst neu erfinden, eine andere Person werden wollen. Damit Elle Marja das aber kann, muss sie ihre Heimat verlassen und sich von ihrer Familie trennen. Es ist ein Kleid, das sie gegen ihre samische Tracht eintauscht, das schließlich die Veränderung einläutet – und in Uppsala wird aus Elle Marja dann Christine, bemüht, sich der Gesellschaft anzupassen.

Dabei wird in diesem Film mehr als einmal deutlich, wie schmerzhaft dieser Prozess für das Mädchen aus dem Norden ist. Regisseurin und Drehbuchautorin Amanda Kernell kann sich vollends auf ihre Hauptdarstellerin Lene Cecilia Sparrok verlassen. Auf ihrem Gesicht spiegelt sich der Wissendurst ebenso wider wie das Gefühl der Erniedrigung, als Wissenschaftler kommen, um sie zu „vermessen“ und einer demütigenden, entwürdigenden Prozedur aussetzen, um ihre „rassische Minderwertigkeit“ festzustellen. Zugleich flammt immer wieder der Widerstandsgeist in ihren Augen auf, sie will mehr vom Leben. Und je stärker dieser Wunsch wird, desto mehr wächst auch die Erkenntnis, dass sie ohne Selbstverleugnung kein neues Leben finden wird. Und in den wenigen Bildern der alten Christina wird klar, wie hoch dieser Preis ist, den sie bezahlen musste. Damit steht sie stellvertretend für viele Samen, die einen anderen Namen tragen und sich selbst als Schweden bezeichnen, ihre Vergangenheit verschweigen und auch keinen Kontakt mehr mit ihrer samischen Familie pflegen. Aber klugerweise belässt es Amanda Kernell nicht bei dieser Beobachtung, sondern verweist auch auf den Preis, den Christina dafür bezahlen musste.

Das Mädchen aus dem Norden (2017)

Schweden in den 1930er Jahren. Das 14-jährige Sámi-Mädchen Elle Marja lebt mit den Eltern und der kleinen Schwester von der Rentierzucht. Im Zuge eines staatlichen „Kultivierungsprogramms“, das den nördlichsten Volksgruppen die schwedische Sprache und Kultur beibringen soll, kommt Elle Marja in ein Internat, viele Kilometer von ihrer Heimat entfernt. Dort wird das Mädchen unterrichtet und gefördert – und rassebiologischen Untersuchungen unterzogen. Zunehmend verleugnet Elle Marja ihre Sámi-Identität, die Herkunft wird ihr fremd und peinlich.

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