Eine Handvoll Murmeln

Eine Filmkritik von Bianka Piringer

„Ich bin kein Jude!“

Joseph Joffo lebt auch heute noch in seiner Heimatstadt Paris, aus der er während der deutschen Besatzung 1941 fliehen musste. Die abenteuerliche Geschichte seiner Odyssee mit seinem Bruder durch Frankreich hielt Joffo in der Autobiografie Ein Sack voll Murmeln fest. Nun nimmt sich, nach einer ersten Kinoadaption im Jahr 1975, erneut ein Film dieser Geschichte eines zehnjährigen Jungen an, dem sein Vater beim Abschied eingeschärft hat, niemandem seine jüdische Herkunft zu verraten. Dem frankokanadischen Regisseur Christian Duguay (Jappeloup – Eine Legende) gelingt es, die emotionale Authentizität der Buchvorlage ins filmische Medium zu übertragen. Stilistisch erscheint die filmische gegenüber der geschriebenen Geschichte, die die Holprigkeiten der Laienprosa aufweist, sogar noch veredelt.

Der zehnjährige Joseph (Dorian Le Clech), von allen nur Jo genannt, ist der jüngste von vier Söhnen des Pariser Friseurs Roman (Patrick Bruel). Jo und seinem Bruder Maurice (Batyste Fleurial Palmieri) steht der Sinn nach Jungenstreichen. Als sich zwei SS-Männer dem Friseurladen nähern, stellen sie sich so vor das Schaufenster, dass das Schild mit dem Hinweis „Jüdisches Geschäft“ verdeckt ist. Prompt betreten die Deutschen den Salon und wollen frisiert werden. Es sind solche detaillierten Erinnerungen an die Erlebniswelt des Kindes, die dem Buch wie auch dem Film eine besondere Atmosphäre und Aussagekraft schenken.


Der Vater und die Mutter (Elsa Zylberstein) beschließen die Flucht nach Nizza, zu ihrer eigenen Sicherheit sollen sich die beiden jüngsten Kinder allein auf den Weg in die Freie Zone machen. Indem er Jo Ohrfeigen verpasst, bereitet der Vater den Jungen auf Verhörsituationen vor, in denen er stets leugnen soll, ein Jude zu sein. Nicht nur in dieser herzzerreißenden Szene beweist der kleine Dorian Le Clech sein vielseitiges darstellerisches Können, zu dem Gefühlsdynamik und die Sprache der Blicke gehören. Er erweist sich als die Seele des ganzen Films, in dem die Beziehung Jos zu seinem geliebten Vater eine zentrale Rolle spielt. Patrick Bruel stellt den stolzen Mann, der erkennen muss, dass es in Frankreich bald keinen Ort mehr gibt, an dem seine Familie in Frieden leben kann, sehr bewegend dar.

Die Odyssee von Jo und Maurice verläuft in Etappen – unterbrochen von einer kurzen, glücklichen Familienzeit in Nizza – und führt vor Augen, wie lang diese Zeit des Terrors war, den die Nazis in Frankreich verbreiteten. Oft stehen Jo und Maurice mit dem Rücken zur Wand und finden in höchster Not Verbündete – Geistliche oder auch einen jüdischen Arzt (Christian Clavier), der mit den Nazis kollaboriert. Die beiden Jungen kommen zeitweise in einem katholischen Heim unter, was an Auf Wiedersehen, Kinder von Louis Malle aus dem Jahr 1987 erinnert. Und erst kürzlich wieder, in Pepe Danquarts Lauf, Junge, lauf aus dem Jahr 2013, ging es um einen jüdischen Jungen, der in Polen auf der Flucht vor den Nazis seine Identität verbergen musste. Das Thema der Selbstverleugnung besitzt stets tragische Tiefe und die Hilfsbedürftigkeit eines elternlosen Kindes wird zudem zum Prüfstein für die Menschen in seiner Umgebung. Duguays Film dringt jedoch nicht allzu tief in die innerseelischen Konflikte seines kleinen Helden ein. Aber die Isolation Jos bleibt spürbar, wenn er zum Beispiel bei einem Buchhändler unterkommt, der Juden hasst und den mit den Nazis verbündeten Marschall Pétain verehrt.

Ein Sack voll Murmeln gehört somit auch zu jenen Filmen aus neuerer Zeit, die die Rolle Frankreichs bei der Judenverfolgung während der Nazizeit kritisch betrachten. So erzählten 2010 Die Kinder von Paris und Sarahs Schlüssel von den Ereignissen im Pariser Vélodrome D’Hiver im Juli 1942, wohin die Pariser Polizei über 8000 Juden verschleppte, die die Deportation in Konzentrationslager erwartete. Jo begegnet französischen Antisemiten und Faschisten, erlebt die Spaltung der Gesellschaft, den Zorn auf die Kollaborateure, der sich nach der Befreiung von Paris entlädt. Duguay porträtiert den pfiffigen Jungen durchaus als Helden, der auch den Widerstandsgeist vieler Franzosen, die seinen Weg kreuzen, spiegelt. Aber er verweigert sich jeglicher Übertreibung, was dem schönen, liebevoll inszenierten Film sehr zugute kommt.
 

Eine Handvoll Murmeln

Joseph Joffo lebt auch heute noch in seiner Heimatstadt Paris, aus der er während der deutschen Besatzung 1941 fliehen musste. Die abenteuerliche Geschichte seiner Odyssee mit seinem Bruder durch Frankreich hielt Joffo in der Autobiografie „Ein Sack voll Murmeln“ fest.

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