Vinyl (Staffel 1)

Eine Filmkritik von Joachim Kurz

Nostalgie und Katzenjammer

Wenn man in der letzten Zeit die Klagen vieler Musiker über mikroskopisch kleine Erlöse aus Streaming-Abrufen ihrer Songs gehört hat, könnte man meinen, dass die Digitalisierung des Geschäftes mit der Musik vor allem jene Strukturen gefördert hat, die in quasi mafiöser Art und Weise die Ausbeutung der Kreativen zum obersten Prinzip erhoben hat.

Nicht, dass dem prinzipiell zu widersprechen wäre. Doch der nostalgisch-verklärte Blick in die Vergangenheit der Popmusik und des damit verbundenen Business mag zwar um einiges unterhaltsamer, insgesamt aber nicht viel positiver ausfallen. Die HBO-Serie Vinyl legt jedenfalls den Schluss nahe, dass damals alles vielleicht ein wenig glamouröser und aufregender, aber nicht wirklich lukrativer gewesen sein dürfte.

Trotz des ernüchternden Befunds aber ist Vinyl ein Riesenspaß – und das liegt nicht zuletzt an den überaus prominenten Masterminds im Hintergrund: Neben Terence Winter (Drehbuchautor unter anderem für Die Sopranos, Boardwalk Empire und The Wolf of Wall Street) zeichnen sich für das orgiastische Sittengemälde Martin Scorsese und Mick Jagger als executive producers verantwortlich. Und Scorsese überlässt in dieser Rolle wirklich nichts dem Zufall und besorgt die Regie des knapp zweistündigen Pilotfilms gleich selbst. Bei so viel Kompetenz für die Umtriebe mafiöser Strukturen ist es kein Wunder, dass Vinyl deutlich sichtbar Bezug nimmt auf Scorseses gesamtes Schaffen und dass, wenn man die Musik abzöge (was wiederum ein großer Fehler wäre), die Serie ein klassischer Stoff wäre, der sich auch bestens als Stand-Alone-Werk im Œuvre Martys ausnehmen würde. Hinzu kommt Scorseses sowieso schon legendäre Verbindung zur Popmusik, die weit über die übliche Verwendung als Soundteppich hinausgeht und der in vielen seiner Filme eine zentrale Bedeutung als kommentierendes Element zukommt. Dass dem Regisseur die Geschichte der US-amerikanischen modernen Musik besonders am Herzen liegt, weiß man spätestens seit seinen Dokumentarfilmen, die sich vor allem an der Popgeschichte abgearbeitet haben. Insofern fließen in Vinyl gleich zwei der zentralen Themen und Motive aus Scorseses Arbeit zusammen und formen sowohl inhaltlich wie formal etwas Neues, Aufregendes und absolut Sehenswertes, das nicht nur jeden Musikfreak begeistern dürfte.

Im Mittelpunkt der Story steht der Labelchef Richy Finestra (Bobby Cannavale), dessen Firma American Century Records im Jahre 1973 am Abgrund steht. Es läuft nicht mehr so gut, der Produktkatalog lässt jegliche klare Linie vermissen, zugleich fehlen die Hit-Lieferanten, die dem maroden Unternehmen wieder auf die Sprünge helfen würden. Als letzte Rettung erscheint ein bevorstehender Vertragsabschluss mit Led Zeppelin und eine mögliche Übernahme durch den deutschen Plattenriesen Polygram, mit dem Finestra und seine Miteigentümer finanziell aus dem Schneider wären. Doch zuerst platzt der Deal mit Led Zeppelin und dann lässt Finestra zum Entsetzen aller Beteiligten den unterschriftsreifen Deal mit Polygram über die Klinge springen, weil er bei einem Konzert der New York Dolls eine Vision über die Zukunft des Rock`n`Roll hatte. Nun sind Visionen nicht selten eine gefährliche Sache und auch bei Finestra geht fortan keineswegs alles so reibungslos, wie er sich das bei seiner nächtlichen Epiphanie vielleicht vorgestellt hatte.

Bereits mit dem epischen Serienauftakt, der förmlich nach einer großen Leinwand bettelt, legt Vinyl einen strammen Beat vor, der eine gewaltige Sogwirkung entfacht. Ein Grund dafür liegt vor allem in den packenden Musiknummern und grandios inszenierten, zum Großteil eigens für die Serie entwickelten Songs und Live-Auftritten, die von Blues über mitreißende Soul- und Funk-Nummern, seichtem Schlagergedudel und wildem Glam- und Proto-Punkrock eine beeindruckende Vielfalt an musikalischen Stilen abdecken. Immer wieder servieren Scorsese und seine prominenten Episoden-Regisseure (neben Allen Coulter versammelt Vinyl unter anderem Mark Romanek und SJ Clarkson auf dem Regiestuhl) immer wieder kleine Gimmicks, süffisante Vignetten echter Szenegrößen wie Led Zeppelin und Alice Cooper und Hinweise auf sich erst abzeichnende musikalische Entwicklungen wie Disco, Punk und HipHop, deren erste Symptome im musikalischen Schmelztiegel New York bereits spür- und hörbar sind. Hinzu kommt ein hervorragender Cast, der bis in die letzte Nebenrolle exzellent besetzt ist, eine überaus stimmige und detailverliebte Ausstattung sowie ein ebensolches Kostümbild – und natürlich Musik, Musik, Musik.

Ein riesiger Spaß und eine Art Schlüsselwerk über die Musikszene, das man sich mindestens so heftig durch die Nase ziehen will wie Richy Finestra und all die anderen ihre Lines wegsaugen.
 

Vinyl (Staffel 1)

Wenn man in der letzten Zeit die Klagen vieler Musiker über mikroskopisch kleine Erlöse aus Streaming-Abrufen ihrer Songs gehört hat, könnte man meinen, dass die Digitalisierung des Geschäftes mit der Musik vor allem jene Strukturen gefördert hat, die in quasi mafiöser Art und Weise die Ausbeutung der Kreativen zum obersten Prinzip erhoben hat.

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