Wim Wenders - Die frühen Jahre - Collection 2 (Blu-ray)

Eine Filmkritik von Simon Hauck

Die Entdeckung der Langsamkeit

Komm mit mir in das Cinema, Dort findet man, was einmal war: Die Liebe! Liegt meine Hand in deiner Hand / Ganz übermannt im Dunkel, Trompetet wo ein Elefant / Urplötzlich aus dem Dschungel – Und schnappt nach uns aus heißem Sand / Auf seiner Filmenseide / Ein Krokodilweib, hirnverbrannt, Dann — küssen wir uns beide. (Else Lasker-Schüler)
Dass der leidenschaftliche Kulturnetzwerker Wim Wenders gerne in intellektuellen Zirkeln verkehrt – und sich seit Beginn seiner Filmemacher-Autoren-Fotografen-Karriere mit Literaten umgibt, ist im Grunde nichts Neues. Dass er dabei aber nie mit dem Schriftsteller Stan Nadolny zusammenarbeitete, ist einfach nur schade, denn eine gewisse geistige Seelenverwandtschaft wäre da in den späten 1970er und frühen 1980er Jahren sicherlich möglich gewesen: Schließlich hieß Nadolnys berühmter, 1983 erschienener Bestseller-Roman Die Entdeckung der Langsamkeit. Und dasselbe wohlige Gefühl beschleicht den Rezensenten, wenn er sich nach Jahren wieder einmal ‚den Wenders‘ vornimmt. Besser gesagt, dessen frühe bis mittlere Phase oder filmhistorisch gesprochen: schlichtweg dessen spannendste Periode. Als dramaturgisch vielseitiges, besonders bildmächtiges Mitglied des magischen Gestirns Fassbinder-Herzog-Kluge-Wenders sprühte der 1945 Geborene in dieser Zeitspanne geradezu vor kreativer Energie – und stieg rasch wie eine Leuchtrakete in den Pantheon des Kinos auf. Woran das damals lag?

Wie in Nadolnys Roman (im Falle von John Franklin) haben auch die Protagonisten der frühen Wim-Wenders-Filme oft massive Schwierigkeiten mit der Schnelllebigkeit der Zeit: Sie sind merkwürdig unstet, leben ziellos und voller innerer Brüche in den Tag hinein, sie irren mehr durch die Gezeiten, als dass sie darin wirklich vorangehen würden. Zugleich sind sie – paradox genug – im Grunde regelrechte Sinnsucher, durchaus mit dem Gespür für moderne Ideale und dem Drang, diese auch in die Tat umzusetzen – auch wenn sie dadurch außerhalb der sogenannten ‚Normalgesellschaft‘ stehen. Denn ein Entdeckergen tragen sie – parallel zur Kapitäns- und Polarforscherfigur bei Nadolny – allesamt in sich: Nur den Kurs dazu haben sie bisher nicht gefunden. Noch nicht …

Mit Peter Handke – einem anderen Literatenschwergewicht und zugleich einem Busenfreund bis in die Gegenwart – hatte Wim Wenders, selbst längst einer der größten lebenden Poeten des Weltkinos, bereits in dieser Zeitspanne höchst erfolgreich zusammengearbeitet, wobei Cineasten natürlich – zumindest gefühlt — auf ewig zuerst an Der Himmel über Berlin von 1987 denken werden, wenn heutzutage irgendwo der Fokus auf das fulminante Artistengespann Wenders/Handke gerichtet wird. Dabei hatten die beiden — an sich leisen und im besten Sinne bis heute recht eigenwilligen – Autoren-Künstler bereits zu Beginn ihrer jeweils bald schon internationalen Karrieren rasch zueinander gefunden und gemeinsam wunderbare Film-Kunst-Werke wie Die Angst des Tormanns beim Elfmeter (1972) ausgehekt oder sich auch an eine durchaus schwierige, bewusst modern gehaltene Adaption von Wilhelm Meisters Lehrjahre gewagt, die schließlich unter dem Filmtitel Falsche Bewegung 1975 den Weg in die damaligen Kinos der alten Bundesrepublik fand und am Ende sensationelle sieben (!) Bundesfilmpreise in Gold gewann (u.a. für Robby Müllers fantastische Bildgestaltung).

Beide etwas zu unrecht vergessene Filmwerke, die im Zuge der Wim-Wenders-Stiftungs-Gründung seit 2014 sorgsam remastered und im ersten Fall aufgrund von heute unbezahlbaren Musikrechten – analog beispielweise zu manchen Arbeiten aus Fassbinders frühem Schaffen – z.T. mit neu aufgenommener Musik abgemischt wurden, sind jetzt wieder neu zu entdecken: in nichts weniger als absolut blendender Bild- und Tonqualität. So perfekt, so wunderschön – ohne plötzlich kalt oder steril zu wirken – hat man beide Titel wirklich noch in keinem Filmmuseum gesehen! Bereits auf der letztjährigen Berlinale wurden alle bisher restaurierten Klassiker dieser (west-)deutschen Autorenfilmerikone gezeigt – erfreulicherweise mit großem Publikumsinteresse, denn diese Wenders-Periode ist bis heute seine künstlerisch stärkste und filmhistorisch wirkungsmächtigste geblieben: Mit durchaus exportfähigen Filmklassikern, was bei Wenders-Filmen bekanntermaßen nicht gerade eine Selbstverständlichkeit ist, trotz – oder gerade wegen – manch hymnischer Verehrung?

An zu wenig Preisen oder zu geringer filmkritischer Wahrnehmung kann es sicherlich nicht liegen, denn in diesen beiden filmhistorischen Allzeitkategorien liegt der berühmte Düsseldorfer Arztsohn – der nach Jahren in den USA inzwischen längst wieder in Berlin gelandet und dort heimisch geworden ist – weiterhin ziemlich weit vorne: Eine Goldene Palme (1982) sowie ein Regie-Preis (1987) und ein Grand-Prix-du-Jury (1993) in Cannes, ein Goldener Löwe in Venedig (1982), ein Goldener Ehrenbär (2015) und ein Silberner Bär (2000) auf der Berlinale, ein Europäischer Filmpreis für die beste Regie (1987)… dazu drei Oscar-Nominierungen, zig Bundesfilmpreise und allerhand Ehrendoktorwürden und filmpolitisch eminent wichtige Ämter (z.B. als Präsident der Europäischen Filmakademie seit 1996)… Das Bild vom Propheten, der im eigenen Land wenngleich nicht nichts, jedoch stets ein bisschen zu wenig gilt, trifft im Falle von Wim Wenders tatsächlich so zu. Übrigens in völligem Kontrast zu seiner glanzvollen Reputation im Ausland.

Besonders im franko- wie anglophilen Raum werden beispielsweise Alice in den Städten (1974) – vielleicht seine beste Kinoarbeit überhaupt, unterstützt von einem immer noch hörenswerten The-Can-Soundtrack, Im Lauf der Zeit – dem Road-Movie schlechthin, prämiert mit dem FIPRESCI-Preis in Cannes (1976) – sowie Der amerikanische Freund mit einem bestens aufgelegten Bruno Ganz mitsamt einem unvergesslichen Dennis Hopper in der Titelrolle (1977) nach wie vor gerne bei Retrospektiven besonders prominent gezeigt, was im Grunde nur konsequent ist: Denn der Ruf des übermäßig begabten Mitbegründers des Verlags der Autoren bekam in jenen glorreichen Zeiten des Neuen Deutsches Films selbst so etwas wie Flügel – und Wenders wurde im Anschluss von Francis Ford Coppola höchstpersönlich nach Hollywood gelockt, wenn auch diese Liebe nicht unbedingt von gegenseitigem Erfolg gekrönt war… Sei’s drum aus heutiger Sicht: Mitte der 1970er Jahre war es zumindest in intellektuellen Kreisen wahrlich en vogue, den jeweils ‚neuesten Wenders‘ gesehen und darüber eifrig diskutiert zu haben, was dagegen für seine jüngeren Spielfilmarbeiten (z.B. Palermo Shooting oder Every Thing Will Be Fine) eben so überhaupt nicht mehr zutrifft, aber das ist ein anderes Thema, weit irdischerer Art… Flügel hin oder her… Zum Glück sehen die Filmengel (wohl) nicht alles…

Alle fünf genannten Meisterwerke, aus denen Alice in den Städten und Der amerikanische Freund am Filmhimmel unverdrossen hervorleuchten, stehen nun als Teil der vom Regisseur eigens kuratierten Wim-Wenders-Collection 2 als fünfteilige Blu-ray-Box in schöner Aufmachung (plus umfangreichem Bonusmaterial) bei Arthaus für sicherlich nicht nur nostalgische Filmabende bereit: Denn diese „Augen kann man nicht kaufen“, wusste schon der große Filmkritiker Peter Buchka, dessen gleichnamiges Buch über den damaligen Fixstern namens Wenders just im Jahre 1983 erschien: Es war eben die Entdeckung eines Großen, schon damals – und heute umso mehr.

Wim Wenders - Die frühen Jahre - Collection 2 (Blu-ray)

Komm mit mir in das Cinema, Dort findet man, was einmal war: Die Liebe! Liegt meine Hand in deiner Hand / Ganz übermannt im Dunkel, Trompetet wo ein Elefant / Urplötzlich aus dem Dschungel – Und schnappt nach uns aus heißem Sand / Auf seiner Filmenseide / Ein Krokodilweib, hirnverbrannt, Dann — küssen wir uns beide. (Else Lasker-Schüler)
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