Louis Malle Edition

Eine Filmkritik von Simon Hauck

Der mit den Tabus bricht

„Aber ich mag es, feste Vorstellungen über den Haufen zu werfen. Oder auch Klischees und Tabus. Das habe ich immer gerne gemacht. Ich habe immer gerne die Scheiße aufgewirbelt, wenn ich das mal so sagen darf. Ich habe diese Filme gemacht, um meine eigene Neugier zu befriedigen. Ich fühle mich nämlich nicht dazu verpflichtet, alles zu glauben, was man mir erzählt.“ (Louis Malle)
Alles begann im existenzialistischen Nachkriegsfrankreich, in jener Pariser ‚Stunde Null‘, als von den teutonischen Barbaren befreit und mit der Kippe im Mundwinkel staffiert eine neue Generation von Film-Autoren dem Film das Filmemachen ganz neu beibrachte: Die filmhistorisch revolutionäre Truppe der nouvels auteures um den experimentellen Bilderstürmer Jean-Luc Godard, den neoromantischen Pathetiker François Truffaut, die emanzipatorische Avantgardistin Agnès Varda, den doppelbödigen Bürgerschreck Claude Chabrol, den kunstaffinen Stilisten Alain Resnais – und eben das verhätschelte Industriellensöhnchen Louis Malle als quasi fünftes Rad am Wagen. Legendär ist – und zigfach zitiert bleibt – die souverän-gelassene Antwort des Franzosen auf die Frage eines Journalisten zu Beginn der 1960er Jahre: „Was würden Sie tun, wenn Sie hundert Millionen Francs hätten?“ – „Aber ich habe hundert Millionen.“

In der Außenwahrnehmung – nicht nur innerhalb der damaligen Zeit, sondern vereinzelt ist das auch noch in heutigen Kolloquien zu hören – stand Malle deshalb oft nur die Rolle des galanten Außenseiters zu: Gleich neben dem stoischen Intellektuellen Jacques Rivette oder dem charmanten Alltagsphilosophen Éric Rohmer, die zwar beide ohne Zweifel zum Kern der tonangebenden Cahiers-du-cinéma-Gruppe innerhalb der Gesamtbewegung gehörten, sich trotzdem aber zu Lebzeiten mehrfach schwer mit dem ominösen Label Nouvelle Vague taten. Louis Malle ließ es sich dabei persönlich nicht nehmen, gegenüber Kritikern bereits nach seinen ersten filmischen Paukenschlägen bitterböse loszufrotzeln: „Wenn der Ausdruck Neue Welle einen Sinn hat, so den eines Schimpfworts.“ Ende der Durchsage. Ähnlich wie der kontroverse Jean-Marie Straub sowie der nostalgische Kinoliebhaber Jacques Demy zog es der 1932 im nordfranzösischen Thumerisiens geborene Malle deswegen lieber ein Leben lang vor, sein eigenes Ding zu machen: Auf-Teufel-komm-raus-Basis!

Denn sowohl das Diabolische, wie im epochemachenden L’Ascenseur pour l’échafaud (Fahrstuhl zum Schafott, 1957) als auch das Wilde, wie zum Beispiel im Skandalfilm Les Amants (Die Liebenden, 1958) zog den manisch ruhelosen Filmemacher („Jedes Mal, wenn ein Film Erfolg hat, falle ich in eine Depression“) magisch an. Nicht minder das Obszöne, wie in Pretty Baby (1978) mit einer damals blutjungen Brooke Shields – dann schon außerhalb Frandkreichs und im Grunde bis hin zu seinem Lebensende (1995) in Los Angeles: Unvergessene Bilder sind das im Gedächtnis jedes Cineasten, wenn beispielsweise Juliette Binoche mit Jeremy Irons am Boden kauert und sich deren nassgeschwitzte Leiber in Damage – im Deutschen zu Verhängnis (1992) vermaledeit – lustvoll dampfend vereinigen. Louis Malles Blick auf seine kreierten Leinwandfiguren war eben äußerst präzise, ohne in Erstarrung oder bloße Oberflächenreize zu verfallen. Im Gegenteil: Sein nahezu unmoralischer Gestus, der sich beispielsweise in der berüchtigten Inzestszene in einer seiner besten Arbeiten — La Souffle au cœur (Herzflimmern, 1971) — manifestierte, hält auch zeitgemäßen Sehgehwohnheiten problemlos stand. Hier wurde nicht verurteilt, sondern bewusst Empathie geschaffen, ohne Angst vor den bourgeoisen Eliten im eigenen Land, die er selbst nur allzu gut kannte …

Seinem numerisch zwar überschaubaren, filmhistorisch jedoch eminent wichtigen Oeuvre wohnte von Anfang an etwas Aufrührerisches inne, eine wunderbare Wut des Widersinns. Denn jede von Malles Arbeiten verhandelt den Umstand des immanenten Eingeschlossen-Seins: in seinen Werten (Lacombe Lucien, 1974), wie in seinen Taten (Le Feu follet / Das Irrlicht, 1963), in seinen Motiven (Au revoir les enfants / Auf Wiedersehen, Kinder, 1987) wie in seinen Wünschen. Die titelgebende Protagonistin aus Zazie dans le métro (Zazie, 1960) möchte eigentlich nur ein einziges Mal U-Bahn fahren. Diesem Verlangen ordnet sie – fantastisch besetzt mit Catherine Demongeot – schier alles unter. Dass sie dabei le tout Paris – in der nicht weniger fintenreichen Regie Malles, die sämtliche Filmgenres und Techniken zitiert – zuerst stückchenweise auseinandernimmt und im Anschluss in rotzfrecher Pippi-Langstrumpf-Manier erneut sehr eigensinnig zusammenstrickt, stört dann auch nicht mehr weiter: Denn in der Welt des Lois Malle galten schon seit jeher ganz eigene Gesetze, skurril-anarchische Novellierungen inklusive.

Mit der hehren Lust am intelligenten Klamauk, geimpft mit Revoluzzer-Geist und Flower-Power-Background bietet sich dieses Bild speziell im Falle der beiden Striptease-Erfinderinnen Jeanne Moreau, der ewigen Malle-Muse, sowie einer glänzend aufgelegten B.B. alias Brigitte Bardot auf dem Höhepunkt ihrer Schauspielkunst. Frivol vereint in der frechen Western-Parodie Viva Maria! mit gefühlten dreihundert Ausrufezeichen aus dem Jahre 1965, einem echten Kultstreifen aus der Schmiede des französischen Kinos nach 1945. Ist das noch ein Nouvelle-Vague-Film, bloß ein französisch-italienischer Europudding oder einfach nur eine internationale Produktion der United Artists?

Pfeif drauf, raunt es da unweigerlich aus dem imaginären Film-Olymp herunter: Es ist in erster Linie ein Louis-Malle-Film. Also ein Werk jenes Meisterregisseurs, dessen Meisterschaft gerade darin bestand, sich – analog nur zu ganz wenigen wie Fritz Lang, Robert Siodmak oder Rainer Werner Fassbinder – in jedem Schaffensakt neu ausloten zu wollen: Forward ever – backward never. Dass er für neue Stoffe gerne auf seine eigene kindliche Prägung zurückgriff ist weitgehend bekannt: „Die Erinnerung“, erklärte der Franzose, „ist der Nährboden, aus dem Bilder und Vorstellungen erwachsen.“

Um sich auch heute noch an den großen Ausnahmeregisseur gebührend zu erinnern, hat das Label Arthaus wahrlich keinen Aufwand gescheut. In der neu vorliegenden Abtastung seiner beständig frischen Film-Kunstwerke (entweder als exquisite DVD-Box mit neun Rohlingen oder als Mini-Best-of-Ausgabe auf fünf Blu-rays) erstrahlt das einflussreiche filmische Schaffen des Weltenbummlers und Schürzenjägers (drei Kinder mit drei Frauen) mit dem Faible für sex & crime, aber auch violence & death aufs Allervorzüglichste. Eine echte Entdeckung bilden hierbei auch seine nur in Filmlieberhaberkreisen bekannten Dokumentararbeiten (Vive le Tour und Place de la République), die der ehemalige Kameramann und Assistent des legendären Jacques-Yves Cousteau zwischen seinen großen Kinofilmen wie im Vorbeigehen drehte. Selbst das gelang dem zu Unrecht vergessenen Wundermann des französischen Nachkriegskinos: Also höchste Zeit für eine Neo-Renaissance des zügellosen Tabubrechers.

Louis Malle Edition

„Aber ich mag es, feste Vorstellungen über den Haufen zu werfen. Oder auch Klischees und Tabus. Das habe ich immer gerne gemacht. Ich habe immer gerne die Scheiße aufgewirbelt, wenn ich das mal so sagen darf. Ich habe diese Filme gemacht, um meine eigene Neugier zu befriedigen. Ich fühle mich nämlich nicht dazu verpflichtet, alles zu glauben, was man mir erzählt.“ (Louis Malle)
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