Spuren auf dem Mond (Blu-ray Special Edition)

Mondsüchtig

„Welcher Tag ist heute?“ Beklemmt blickend wie überfordert fragend sucht Alice (Florinda Bolkan) nach Antworten im futuristischen Interieur des ehemals faschistischen EUR-Viertels in Rom. „Ich erinnere mich an nichts mehr!“, säuselt die eigentlich tough auftretende Übersetzerin vor sich hin. Keiner versteht sie hier, stattdessen schlägt ihr arrogante Ablehnung wellenhoch entgegen. Konsterniert – und psychisch bereits deutlich angeknackst – macht sie sich auf den Weg nach Hause. Dort findet sie die Fetzen einer ihr rätselhaften Ansichtskarte: Sie erkennt nicht viel, nur so etwas wie einen gewaltigen Luxus-Hotel-Bunker, der ihr auf Anhieb seltsamerweise ebenso fremd wie vertraut vorkommt. Alice überlegt nicht lange und startet einen Trip ins Ungewisse. Ihr Ziel: das Hotel Garma, das natürlich nicht lokalisierbar ist. Schließlich streunert der Zuschauer durch einen der stilprägendsten Giallo-Filme des gesamten Genres: Willkommen in der psychotronischen Welt des Luigi Bazzoni.
Angesiedelt zwischen Orient und Okzident, gedreht als italienische Produktion für den internationalen Markt und nicht zuletzt mit Klaus Kinski als grimmiger mad scientist on the dark side of the moon spektakulär besetzt, ist Spuren auf dem Mond (im Original: Le Orme) auch noch nach Jahrzehnten ganz dem Kino-Geist der wilden, mitunter sehr freigeistigen 1970er Jahre verpflichtet. Denn die Kino-Moderne hatte sich in dieser Zeit nach dem filmischen Erdbeben-Duo Ingmar Bergman (Persona) und Michelangelo Antonioni (L’Avventura) zunehmend dem beliebten Vexierspiel namens „klares Bewusstsein vs. das ominöse Unbewusste“ zugewandt. Mit filmhistorisch außerordentlichen Ergebnissen, die von Nicolas Roegs Wenn die Gondeln Trauer tragen / Don’t Look Now (1973) über Rainer Werner Fassbinders Angst vor der Angst (1975) bis hin zu Dario Argentos Suspiria (1977) reichen, die Bazzonis unheimlicher Wunderkiste deutlich Pate standen.


Zudem geprägt von Alain Resnais’ Letztes Jahr in Marienbad / L’année dernière à Marienbad, dessen immenser Einfluss gerade im Bonusfilm La Donne Del Lago von 1965 (erstmals auf DVD und Blu-ray erhältlich!) sogar noch greifbarer wird als im eigentlichen Hauptfilm dieser bemerkenswert liebevoll gestalteten Mega-Edition (mit insgesamt 2 Blu-rays und 3 DVDs), geht Luigi Bazzoni bei Spuren auf dem Mond (1975) bereits in den ersten Einstellungen aufs Ganze: Ein düsterer Mond, ins mysteriös-bläuliche Halblicht getaucht. Schnitt. Eine entfesselt-schwankende Kamera vom dreifachen Oscar-Preisträger Vittorio Storaro, dem Cousin des italienischen Regisseurs, fokussiert einen seltsam benommenen Astronauten. Dann stürzt er ins Uferlose. Der Boden des gefährlich wirkenden Mondes wankt – und der Zuschauer mit ihm. Was ist das? Ein Nicht-Film an einem Nicht-Ort? Ein Film-im-Film im Kopf der Übersetzerin, ersponnen allein aus dem Geiste der niemals real auftretenden Agenten? Und was hat der gewohnt diabolisch dreinschauende Klaus Kinski mit alldem zu tun?

Kein solitäres Intermezzo ist das, sondern erst der Auftakt zu einer der visuell bestechendsten Arbeiten des großen Storaro, dem eine interessante Dokumentation im Bonusmaterial gewidmet wurde – und der im Anschluss für Bertoluccis Novecento sowie Coppolas Apocalypse Now! angeheuert wurde. Kein Wunder, möchte man da heute sagen. Doch zur Entstehungszeit dieses mit zahlreichen Science-Fiction- wie Giallo-Elementen gespickten Underground-Feuerwerks von einem Mysteryfilm, der zwanglos Retro-Futurismus-Mode à la Jil Sander mit Fantasie-Arabisch-Zeichen und Gründerzeitarchitektur kombiniert, muss er in erster Linie mehr verstört denn unterhalten haben. Denn so sonderbar zurückhaltend, in sich gekehrt spielend war die große Florinda Bolkan (Allein gegen die Mafia) nur selten zu sehen.

Viele Fragen – viele Impulse, die durch den rauschhaften Score von Nicola Piovani sogar noch minütlich weiter angeregt werden: Ein elektronisch verstärkter Orgelhagel, der immer wieder durch zarte Streicher- und Panflöten-Passagen durchsetzt ist, bestimmt den musikalischen Gestus dieses Films von der ersten Mond-Alptraum-Episode an. Dabei wird diese bedrückende Melancholie einer „Dieses-Mädchen-wird-es-schon-noch-schaffen“-Story von Bazzoni mehrfach – und lustvoll – zertrümmert. Und auch wieder zusammengeflickt.

Denn warum sonst findet Alice (aka Nicole?) jenen Ohrring wieder? Welche Katalysator-Rolle verkörpert das Alice in Wonderland-Nachbarsmädchen (Nicoletta Elmi) wirklich? Zeitgleich spukt der verführerische Tennis-Boy Harry (Peter McEnery) immer öfter durch die Träume der verstörten Übersetzerin, ehe er selbst im Film auftaucht.

Luigi Bazzoni hatte somit einst mit Spuren auf dem Mond das grelle Experiment gewagt, einen einzigen filmischen stream of consciousness in Storaros Kamera künstlerisch einzufangen, der – wie in der Moebius-Schleife – weder Anfang noch Ende kennt: Besser geht’s nicht, was auch für die reiche Ausstattung dieser bildlich betörend guten Film-Box gilt. „Welcher Tag ist heute?“ Bazzoni-Tag!

Simon Hauck

Spuren auf dem Mond (Blu-ray Special Edition)

„Welcher Tag ist heute?“ Beklemmt blickend wie überfordert fragend sucht Alice (Florinda Bolkan) nach Antworten im futuristischen Interieur des ehemals faschistischen EUR-Viertels in Rom. „Ich erinnere mich an nichts mehr!“, säuselt die eigentlich tough auftretende Übersetzerin vor sich hin. Keiner versteht sie hier, stattdessen schlägt ihr arrogante Ablehnung wellenhoch entgegen. Konsterniert – und psychisch bereits deutlich angeknackst – macht sie sich auf den Weg nach Hause.
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