Mein Onkel (1958)

Eine Filmkritik von Marie Anderson

Monsieur Hulot als resistenter Repräsentant widerständiger Kauzigkeit

Mit ganz wunderbar plakativen, gegensätzlichen Impressionen zweier extrem unterschiedlicher Wohnquartiere beginnt diese schwungvolle Komödie von Jacques Tati aus dem Jahre 1958. In einem urigen, dörflichen Stadtteil innerhalb einer gemütlichen Nachbarschaft lebt in einer kleinen Dachgeschosswohnung der Junggeselle Monsieur Hulot (Jacques Tati), während seine Schwester Madame Arpel (Adrienne Servantie) mit ihrem Gatten Charles (Jean-Pierre Zola) und ihrem Sohn Gérard (Alain Bécourt) in einem geradezu sterilen Einfamilienhaus mit innovativem technischem Equipment in einem modernen Viertel der Stadt residiert. Die so detailliert wie charmant und dynamisch gestalteten Einzelheiten dieser Lebensräume deuten bereits die komischen Konflikte an, in denen der ungeschickte Monsieur Hulot im Kontakt mit seiner Familie waten wird, stets kleine bis mittlere Katastrophen um sich herum verbreitend.

Nach ihrer filmischen Einführung in Die Ferien des Monsieur Hulot von 1953 tritt hier fünf Jahre später erneut jene schrullige Figurschöpfung des französischen Komikers und Filmemachers Jacques Tati in Erscheinung, die durch ihre schlichte, charmante und allzu menschliche Sperrigkeit immer wieder für unruhige, humorige Abläufe im Alltagsgeschehen ihrer Umgebung sorgt. Als erfolgreichstes Werk des Regisseurs, der in seinen Filmen stets selbst den schweigsamen Hauptprotagonisten mimt, wurde Mein Onkel seinerzeit auch mit einigen Auszeichnungen prämiert, darunter der Spezialpreis der Jury beim Filmfestival von Cannes für Jacques Tati sowie der Preis des New York Film Critics Circle und ein Oscar für den Besten fremdsprachigen Film.

Der zweite Spielfilmauftritt des hoch aufragenden Monsieur Hulot zeigt diesen nun in seinem persönlichen, alltäglichen Umfeld, in dem er sich als tollpatschiger, doch durchaus auch integrierter und sympathischer Kauz mit der ihm eigenen Umständlichkeit bewegt. Mit seinem ungefähr zehnjährigen Neffen Gérard, der sich in seinem schick stilisierten, doch unwirtlich strukturierten und unterkühlten Zuhause sichtbar gelangweilt bis unwohl fühlt, unterhält der alleinstehende Herr im mittleren Alter ein zugeneigtes und entspanntes Verhältnis. Er holt ihn zu Fuß oder mit dem Rad von der Schule ab, während die übrigen Kinder in der Kolonne der überwiegend imposanten Automobile chauffiert werden, und lässt ihn gemeinsam mit Gleichaltrigen in seinem beschaulichen Viertel eine feine freie Spielzeit verbringen. Die erheiternden Streiche dieser kleinen Lausebande und ihr Umgang untereinander zählen zu den schönsten nostalgischen Momenten des Films, der damit auch eine Bresche für das Wesen der Kindheit schlägt.

Die Qualität des Monsieur Hulot als wertvoller Onkel und eigenwilliger Zeitgenosse mit einer ganz anderen Lebensfiguration wird jedoch weder von Gérards Vater, der allmählich zur Eifersucht neigt, noch von seiner Mutter wahrhaft geschätzt: Während Charles bemüht ist, seinen Schwager in einen vermeintlich „guten Job“ in seiner Gummischlauchfabrik zu drängen, was sich allerdings nach seinem ersten chaotischen Einsatz wohlweislich erledigt, würde seine Schwester ihn gern mit ihrer mondänen Nachbarin zusammenbringen. Doch das kleine Gartenfest, das sie zu diesem Zwecke arrangiert, mündet selbstverständlich in ein harmloses Fiasko und treibt die Karikierung der pragmatisch unwegsamen schönen neuen Technikwelt der Arpels auf die Spitze. Inmitten der aberwitzigen Dysfunktionen der modernen Errungenschaften wird die komische Deplatziertheit des Monsieur Hulot einmal mehr betont und damit ein Charakter weiterentwickelt, dessen tragikomische Präsenz sich auch in den nachfolgenden Filmen Jacques Tatis als heitere Gesellschaftskritik manifestieren wird.

Das markanteste formale Merkmal von Mein Onkel stellt sein detailfreudiges, sorgfältig gestaltetes Design der beiden konträren Wohnquartiere dar, dessen Ästhetik sich stimmig in den Ablauf der Dramaturgie hineinbeugt. Auch die zuvorderst als Statussymbol eingesetzten Karosserien der unterschiedlichsten Automodelle sind ein Augenschmaus, so wie ihre temporär inszenierte Gleichförmigkeit als Dynamik eines zumindest ambivalenten, isolierenden Mobilitätszuwachses fungiert. Der karge, kühl anmutende Entwurf des Arpel-Domizils von Drehbuchkoautor Jacques Lagrange fand nachhaltige Beachtung in fachspezifischen Kreisen, und ein Modell davon wurde im vergangenen Jahr im französischen Pavillon der Architektur-Biennale in Venedig ausgestellt. Die als unattraktive Augen evozierten Fenster der Villa Arpel behalten diesen Monsieur Hulot als widerständigen Vertreter von rumpeliger Menschlichkeit, unzeitgemäßer Entschleunigung und defizitärer Effektivität argwöhnisch im Blick, und dieser erwidert diesen entwaffnend mit seiner hartnäckigen Unverbesserlichkeit.

Letztlich ist es der allzu menschliche Mensch, der vom Territorium der modernen Fortschrittlichkeit zwar verbannt wird, doch sein sanfter, mildernder Einfluss wirkt durchaus dort fort, während er selbst – so ist es zu vermuten und später in Filmen wie Playtime – Tatis herrliche Zeiten / Playtime und Trafic – Tati im Stoßverkehr / Trafic auch zu sichten – der resistente Repräsentant einer liebenswerten Spezies bleibt, welcher Jacques Tatis Filmkunst ein lebensfrohes Denkmal setzt. Damit begehrt der Komiker in bester Tradition berühmter Kollegen unterhaltsam gegen die Pathologisierung von Kauzigkeit auf, die im Grunde in den allermeisten Gesellschaften immer wieder aufs Neue eine hämische Hochkonjunktur erlebt, ungeachtet der Kauzqualität als unverzichtbare conditio humana.
 

Mein Onkel (1958)

Mit ganz wunderbar plakativen, gegensätzlichen Impressionen zweier extrem unterschiedlicher Wohnquartiere beginnt diese schwungvolle Komödie von Jacques Tati aus dem Jahre 1958. In einem urigen, dörflichen Stadtteil innerhalb einer gemütlichen Nachbarschaft lebt in einer kleinen Dachgeschosswohnung der Junggeselle Monsieur Hulot (Jacques Tati), während seine Schwester Madame Arpel (Adrienne Servantie) mit ihrem Gatten Charles (Jean-Pierre Zola) und ihrem Sohn Gérard (Alain Bécourt) in einem geradezu sterilen Einfamilienhaus mit innovativem technischem Equipment in einem modernen Viertel der Stadt residiert.

  • Trailer
  • Bilder

Meinungen