Der sanfte Lauf

Eine Filmkritik von Wolfgang Nierlin

Auf der Suche nach dem möglichen Glück

Der junge Elektroingenieur Bernhard Kral (Bruno Ganz in seiner ersten Filmhauptrolle) ist ein selbstbewusster, nachdenklicher Außenseiter. Bei seiner Arbeit in der Versandabteilung eines Elektroherstellers, die er eher lustlos und gelangweilt verrichtet, neigt er zur Ironie. Im Antiquitätenladen des befreundeten Ehepaares Susanne und Wolf Kamper treibt er übermütig und ziemlich direkt seinen Schabernack mit einer hübschen Kundin, um sie für ein Rendezvous zu überreden. Abends, beim gemeinsamen Besuch eines Jazzclubs, zeigt er sich hingegen eher kühl und gleichgültig; und auch den aktuellen Vergnügungstänzen begegnet er reserviert und ablehnend.
Bernhard Kral macht nicht gern mit und ist doch mittendrin. Sein Charakter verträgt sich nicht mit dem Zeitgeist. Später, in der Wohnung von Johanna Benedikt (Verena Buss), der Tochter eines reichen Bauunternehmers, nimmt er plötzlich Reißaus. Trotzdem beginnt er mit seiner neuen Bekanntschaft bald darauf eine Liebesbeziehung.

Elliptisch und in Andeutungen portraitiert Haro Senft in seinem 1967 entstandenen Spielfilmdebüt Der sanfte Lauf einen Vertreter der Nachkriegsgeneration, der seinen Platz in der Gesellschaft noch nicht gefunden hat. So wirkt Bernhard Kral in seinen persönlichen Beziehungen und beruflichen Absichten immer wieder merkwürdig verloren und deplaziert. Gegenüber seinen Generationsgenossen bleibt er distanziert; mit der Väter-Generation, deren steife Macht und dominanter Einfluss von Senft in der Darstellung gesellschaftlicher Rituale und schematisch-formelhafter Reden ironisiert wird, will er nichts oder nur wenig zu tun haben: „Wo haben die die letzten vierzig Jahre gelebt?“, kommentiert Bernhard einmal die selbstzufriedene Sattheit und den politischen Konservativismus von Johannas Eltern. Später erfahren wir, dass er wegen Körperverletzung an einem Altnazi vorbestraft ist und deshalb sein Studium nicht beenden konnte. Trotzdem ist Bernhard kein zeittypischer Rebell mit klarem Feindschema; vielmehr ist er nach allen Seiten hin verunsichert und unbequem.

Das zeigt sich nicht zuletzt bei einem Besuch seiner Geburtsstadt Prag, der von einer gewissen Sprachlosigkeit gegenüber den Gleichaltrigen geprägt ist. Auch mit Johanna kommt es immer wieder zu Konflikten, die von Bernhards latenter Unzufriedenheit verursacht werden. Nach der Rückkehr muss er schließlich erfahren, dass er seinen beruflichen Aufstieg zum leitenden Ingenieur, der mit der Entwicklung eines selbst entworfenen Helligkeitsreglers betraut ist, seinem einflussreichen, eher ungeliebten Schwiegervater in spe zu verdanken hat. So stolpert der gespaltene Held, der herausfinden will, „woran ich mit mir bin“, in ein Glück, das er nicht will und das doch „möglich“ ist.

Ob es sich bei diesem richtigen im falschen Leben um eine „sanfte“ Anpassung, eine ungewollte Vereinnahmung, einen faulen Kompromiss oder einfach nur um den Weg des geringsten Widerstandes handelt, ist in Haro Senfts schwarzweiß gedrehtem, ebenso differenzierten wie vielschichtigen Portrait eines irgendwie unbehausten Helden nicht leicht zu entscheiden. Schon die einleitende Autofahrt mit ihren irritierenden Spiegeleffekten sorgt diesbezüglich für Desorientierung. Und auch die Kontrastfigur des nonkonformistischen Revoluzzers Wolf (Hans Putz) taugt in ihrer Desillusionierung kaum als Gegenentwurf. Als gescheiterter Apologet der Freiheit konstatiert dieser einmal nüchtern: „Die Freiheit hat Sprünge und der Himmel hat Risse.“ Die langen Schatten der Vergangenheit, nicht zuletzt verkörpert durch die Repräsentanten des Systems, führen in der jungen, aufstrebenden Generation offensichtlich zu Verbiegungen und Resignation.

Als einen „großen Außenseiter des deutschen Films“ bezeichnet der Filmpublizist Wilhelm Roth in seinem instruktiven Aufsatz, der sich im ausführlichen Booklet der DVD-Veröffentlichung abgedruckt findet, den Filmemacher Haro Senft. Obwohl dieser zu den Initiatoren des Oberhausener Manifests von 1962 zählt und als wichtiger Vertreter des Jungen Deutschen Films sowie als Pionier ungewöhnlicher Kinderfilme gilt, ist der 1928 im böhmischen Budweis geborene Regisseur heute beinahe vergessen. Seine künstlerische Entwicklung, von Roth in Verschränkung mit Senfts Lebensstationen nachgezeichnet, lässt sich auch anhand einer Auswahl früher Kurzfilme nachvollziehen, die sich als Extras auf der DVD finden. In ihnen begegnet man avantgardistischen Experimenten (z. B. im Kurzspielfilm Die Brücke von 1957, der an Arbeiten von Herbert Vesely und Ottomar Domnick erinnert), dokumentarischen Ansätzen und einem Interesse an der genauen Alltagsbeschreibung. Zweifelnde, mit sich ringende Menschen, die nach dem richtigen Leben suchen, sind es dann auch, so Wilhelm Roth, die vor allem in Senfts ersten beiden Langfilmen Der sanfte Lauf und Fegefeuer (1970) im Mittelpunkt stehen. Ihnen sei kein „kämpferischer Gestus“ eigen, sondern allenfalls das Eingeständnis ihrer „Unsicherheit“ und „Verwirrung“.

Als einen „sanften“ Rebell und „großen Humanisten im Kreis der Filmemacher des Neuen Deutschen Films“ würdigt auch Dieter Kosslick, Leiter der Internationalen Berliner Filmfestspiele, den Regisseur. Anlass für Kosslicks schöne Laudatio, ebenfalls der DVD beigegeben, ist die Verleihung der Berlinale Kamera im November 2011 an Haro Senft in dessen Münchner Wohnung. „Zellen der Moderne im nachwirkenden Muff der Nachkriegszeit der Bundesrepublik“ seien die diversen Initiativen des „umtriebigen Navigators“ Senft gewesen, die schließlich zum Oberhausener Manifest führten. Dass hinter seiner Rebellion letztlich vor allem die prägenden, oft entmündigenden Erfahrungen der Kriegs- und Nachkriegsjahre standen, beschreibt der Geehrte eindrucksvoll in seiner bewegenden Dankesrede, die sich als Plädoyer dafür versteht, „das Abenteuer des eigenen Lebens zu leben“. Dass dieses wiederum von dem eingangs erwähnten humanistischen Kern beseelt ist, bestätigt Haro Senft, wenn er sagt: „Rebellion ist immer etwas Individualistisches, aber nie egoistisch, denn es geht im Letzten immer um die Freiheit aller.“

Der sanfte Lauf

Der junge Elektroingenieur Bernhard Kral (Bruno Ganz in seiner ersten Filmhauptrolle) ist ein selbstbewusster, nachdenklicher Außenseiter. Bei seiner Arbeit in der Versandabteilung eines Elektroherstellers, die er eher lustlos und gelangweilt verrichtet, neigt er zur Ironie.
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