1992 - Die Zukunft ist noch nicht geschrieben (Staffel 1)

Eine Filmkritik von Andreas Köhnemann

Everybody Hurts

„Hast du noch nie etwas Furchtbares getan?“, fragt der Werbefachmann Leonardo Notte (Stefano Accorsi) die Großunternehmer-Tochter Bibi Mainaghi (Tea Falco) zu Beginn des Finales der ersten Staffel von 1992. „Doch, immerzu“, erwidert die junge Frau, die sich innerhalb kurzer Zeit vom antriebslos-melancholischen Party Girl zur entschlossenen Nachfolgerin ihres Vaters entwickelt hat. Dieser Wortwechsel bringt auf den Punkt, mit welchen Figuren wir in der von Sky Italia produzierten TV-Serie konfrontiert werden: Es sind Menschen, die in ihre persönliche Hölle hinabsteigen müssen und sich zu Taten gezwungen sehen, für die sie sich selbst zutiefst verurteilen. Mit ihrer erzählerischen und inszenatorischen Wucht sind die ersten zehn Episoden von 1992 näher an einer modernen Oper als an einer trivialen Soap – was auch daran liegt, dass die fiktiven Erzählstränge um Liebe und Leidenschaft, Erfolge und Niederlagen, Intrigen und Verbrechen stets geschickt mit der realen Geschichte des Landes im titelgebenden Jahr verwoben werden.

1992 schildert die skandalumwitterten Ermittlungen des Staatsanwalts Antonio Di Pietro (hier verkörpert von Antonio Gerardi). Unter der Bezeichnung Mani pulite (zu Deutsch: „Saubere Hände“) wurden damals Untersuchungen und Aktionen zur Bekämpfung von Korruption eingeleitet, deren Ergebnisse Mailand den Namen Tangentopoli („Stadt der Schmiergelder“) einbrachten und bald landesweite Einsätze nach sich zogen. Amtsmissbrauch und illegale Parteienfinanzierung wurden aufgedeckt, etliche Unternehmer und Politiker wurden überführt, die großen Parteien der italienischen Sozialisten und Christdemokraten brachen zusammen, wovon neue Parteien wie die rechtspopulistische Lega Nord profitieren konnten. Überdies wusste der Unternehmer Silvio Berlusconi die aufgeheizte Stimmung für seinen Einstieg in die Politik zu nutzen.

Die historischen Ereignisse dienen als Hintergrund für die Erlebnisse von sechs Figuren. Neben dem bereits erwähnten Marketingexperten Leonardo, der unerwarteten Besuch von seiner jugendlichen Tochter Viola (Irene Casagrande) erhält und immer noch von den Dämonen seiner Vergangenheit gejagt wird, sowie der zunächst am Abgrund taumelnden und später erstaunlich harten Bibi zählen zwei Polizisten aus Di Pietros Team zu dem Sextett. Der eine – Rocco Venturi (Alessandro Roja) – ist in viele krumme Geschäfte verwickelt, der andere – Luca Pastore (Domenico Diele) – verfolgt bei den Ermittlungen einen eigenen Vergeltungsplan, da er Bibis mächtigen Vater Michele (Tommaso Ragno) für eine persönliche Tragödie verantwortlich macht. Ferner erzählt 1992 von Pietro Bosco (Guido Caprino), der als unehrenhaft Entlassener aus dem Zweiten Golfkrieg heimkehrt und zu einem Kandidaten der Lega Nord wird, sowie von der Mittzwanzigerin Veronica Castello (Miriam Leone), die eine Film- und Fernsehkarriere anstrebt und sich auf ihrem Weg immer wieder in die Abhängigkeit vermeintlich einflussreicher Männer begibt.

In der detailgenauen Rekonstruktion einer vergangenen Ära erinnert 1992 natürlich an den US-Hit Mad Men – zumal beide Produktionen einen Einblick in das Werbemilieu ihrer Zeit gewähren; die politische Komponente lässt wiederum an The West Wing, House of Cards oder die dänische Variante Borgen – Gefährliche Seilschaften denken. Doch die von Alessandro Fabbri, Ludovica Rampoldi und Stefano Sardo konzipierte Serie ist nicht nur in Relation zu diesen Werken hochinteressant. Die kritische Art und Weise, in der sich 1992 mit der jüngeren Vergangenheit Italiens auseinandersetzt und damit zugleich viel über den heutigen Zustand des Landes verrät, ist bemerkenswert. Neben der erdigen Farbigkeit der Bilder ist vor allem der Musikeinsatz gelungen: Songs wie „Everybody Hurts“ von R.E.M. oder „All That She Wants“ von Ace of Base wurden vermutlich noch nie so stimmig in eine Geschichte integriert – im letzten Fall gar mit einer besonders fiesen, bitteren Pointe. Die Drehbücher der ersten Staffel spielen gewiss mit Klischees – wenn etwa eine Person am Telefon die Worte „Ich muss Ihnen etwas Wichtiges sagen, wir müssen uns sofort sehen“ sagt, darf man davon ausgehen, dass das Treffen verhindert wird –, oft vermag der Handlungsverlauf aber auch zu überraschen. Die Besetzung der Rollen ist ausnahmslos gut; den Figuren folgt man trotz ihrer unsympathischen Züge jederzeit mit Anteilnahme. Wenn Leonardo Bibi in der letzten Szene der Abschlussepisode versichert „Das wird ein wunderbares Jahr, 1993!“, hofft man sehr, diese Menschen in der nächsten Phase ihres Lebens erneut begleiten zu dürfen.
 

1992 - Die Zukunft ist noch nicht geschrieben (Staffel 1)

„Hast du noch nie etwas Furchtbares getan?“, fragt der Werbefachmann Leonardo Notte (Stefano Accorsi) die Großunternehmer-Tochter Bibi Mainaghi (Tea Falco) zu Beginn des Finales der ersten Staffel von „1992“. „Doch, immerzu“, erwidert die junge Frau, die sich innerhalb kurzer Zeit vom antriebslos-melancholischen Party Girl zur entschlossenen Nachfolgerin ihres Vaters entwickelt hat. Dieser Wortwechsel bringt auf den Punkt, mit welchen Figuren wir in der von Sky Italia produzierten TV-Serie konfrontiert werden: Es sind Menschen, die in ihre persönliche Hölle hinabsteigen müssen und sich zu Taten gezwungen sehen, für die sie sich selbst zutiefst verurteilen.

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