Liebe ohne Krankenschein

Eine Filmkritik von Thomas Groh

Flaschenpost aus dem Jahr 2008

Mit Silver Linings, American Hustle und Joy: Alles außer gewöhnlich hat sich der Filmemacher David O. Russell in den vergangenen Jahren als Garant für sowohl oscar-, als auch publikumstaugliche Filme erwiesen. Vorausgegangen waren diesem beeindruckenden Siegeszug Filme wie der schöne Boxerfilm The Fighter und der mit den Mechanismen der generischen Sundance-Komödie zwar hantierende, aber dennoch eigenständige I Heart Huckabees, die Russell bereits als eine der interessanteren Stimmen in jenem Segment des US-Gegenwartskinos zwischen künstlerischer Ambition und Publikums-Reichweite etablierten.
All diese Filme eint ein gewisser „Russell-Touch“: Auffällig oft drehen sich seine Filme um ziemlich idiosynkratische, mitunter schlicht neurotische bis latent dysfunktionale Figuren, die sich auf je eigene Weise im Hamsterrad des American Dream wiederfinden. Meist stehen sportiv zu meisternde Herausforderungen im Mittelpunkt, doch kommen Russells Filme mit einer gewissen Kante daher: Anders als die Rags-to-Riches-Geschichten etwa der Rocky-Filme verschweigt Russell die Deformationen nicht, die damit einhergehen, wenn sich in einer Gesellschaft alles um Aufstieg, Leistung und das Meistern von Hürden dreht.

Als Kuriosität erscheint hier nun Liebe ohne Krankenschein auf der Bildfläche: Laut credits entstand der Film 2015, was nahelegt, dass der Film still und heimlich in Russells heißer Oscar-Run-Phase der letzten Jahre entstanden ist. Doch die Lage ist verzwickter: Tatsächlich handelt es sich bei dem Film um so etwas wie den „verlorenen Russell-Film“. Gedreht wurde er bereits 2008, er füllt also die rätselhaft lange Lücke zwischen I Heart Huckabees (2004) und The Fighter (2010). Eine schwierige Produktionsgeschichte verhinderte allerdings den zeitigen Abschluss. 2010 sprang der Regisseur enerviert ab. 2015 stellte das Studio den Film auf eigene Faust fertig. Russell distanziert sich daher von dem Produkt und zählt es nicht zu seinem offiziellen Werk: Liebe ohne Krankenschein wird daher unter dem Regie-Pseudonym Stephen Greene vermarktet. Entsprechend fielen die Reaktionen der US-Kritik anlässlich des kleinen Kinostarts im vergangenen Jahr, gelinde gesagt, niederschmetternd aus.

Ein wenig nachvollziehbar ist das schon, hält man sich vor Augen, für welches kritikerkompatible Qualitätskino Russelll mit seinem Namen mittlerweile steht: Im Vergleich dazu ist Liebe ohne Krankenschein grell übersteuert und satirisch drastisch überzogen. Dieser hysterische Grundton korrespondiert auch mit der Inszenierung: Die Perspektiven sind oft schräg und verwinkelt, die namhaften Schauspieler — neben Jake Gyllenhaal und Jessica Biel in den Hauptrollen sind da noch Tracy Morgan und Kirstie Alley — grimassieren in erster Linie. Doch im Grunde ist auch dieser Film zumindest in seinen Ansätzen als „typischer Russell“ erkennbar: 2008 und also am Vorabend von Barack Obamas Triumph bei den US-Wahlen entstanden, erzählt Russell hier die in ihren Grundzügen fast schon Frank-Capra-artige Geschichte von Alice Eckle (Jessica Biel), die in ihrer Forderung nach einer vernünftigen US-Gesundheitspolitik — eines der zentralen politischen Projekte der Obama-Administration — bis nach Washington zieht, sich auf diesem Weg in allerlei absurde Verwicklungen verstrickt und sich mit einem Haufen von Freaks, Neurotikern und weirdos verbündet.

Doch Russell erzählt dies nicht als Erbauungsgeschichte, sondern verleiht der Story von vornherein einen Twist ins brachial Durchgeknallte, was den Film über weite Strecken wie einen genuinen Film von Trashpapst John Waters erscheinen lässt: Alice nämlich steckt ein Nagel im Kopf. Den verdankt sie einem verunglückten Heiratsantrag in einem Restaurant, in dem gerade Bauarbeiten stattfanden. Ohne Krankenversicherung aber lässt sich der Nagel nur gegen eine immense Summe aus dem Gehirn entfernen. Belässt man den Nagel an Ort und Stelle, prognostizieren die Ärzte, wird Alice sexuell enthemmt, anfällig für erratische Stimmungsschwankungen und könnte fortan in fremden Sprachen sprechen. Ihr Verlobter, der schmierige Polizist Scott (James Marsden), zieht angesichts solcher Aussichten die Verlobung geflissentlich zurück. Nach einer missratenen Gehirnoperation auf dem heimischen Sofa durch eine betrunkene Tierärztin (Kirstie Alley) verfällt Alice in einer depressiven Phase schließlich den TV-Bildern des jungen Abgeordneten Howard Birdwell (Jake Gyllenhall), den sie persönlich beackern will, um eine Reform der Gesundheitspolitik zu Wege zu bringen. Auf nach Washington also!

Der Name John Waters fiel bereits. Tatsächlich erinnert Russells derbe Polit- und Sozialsatire in vielen Momenten an späte Filme des Trashfilmers, wie Cecil B. Demented und A Dirty Shame. Und erstaunlich oft erweist sich Russell dabei als würdiger Ziehsohn: Nicht nur die Grundprämisse ist delikat geschmacklos — das derbe Spiel mit den Bedeutungsebenen, dass Alice „nailed“, also „genagelt“, ist, ergibt sich sogar im Deutschen -, es folgen auch viele weitere Szenen, die man so auch ohne Weiteres bei Waters antreffen könnte, etwa wenn es darum geht, die Verkommenheit mancher Facetten der Politik bloßzustellen: Nicht nur ist die Politikerkaste durch und durch opportunistisch, intrigant oder intellektuell schlicht nicht satisfaktionsfähig, sie spielt auch völlig debile, aber öffentlichkeitswirksame Ziele — „Wir brauchen eine Basis auf dem Mond!“ — gegen vernünftige Ziele wie eine medizinische Grundversorgung auch der weniger wohlhabenden Bevölkerungsschichten aus und bedient sich zu diesem Zweck auch völlig schäbiger Mittel. So etwa, wenn es darum geht, eine prä-pubertäre Pfadfinderin, die Alice bei ihrem Kampf unterstützt, in hanebüchenen Fernsehspots als gefährliche „Lesbe“ zu verunglimpfen, die mit ihrer Forderung nach einer Reform der Gesundheitspolitik einen lesbischen Sozialismus herbeiführen wolle. Vor dem Hintergrund des aktuellen Trump-Wahkampfs werden solche monströsen Ausformungen des politischen Schlagabtauschs unter der Gürtellinie mit einem Mal wieder aktuell — die Hysterie des Films und sein mitunter ziemlich jenseitiger Charakter entsprechen schlicht der Hysterie der politischen Kultur in den USA.

Kurz: Liebe ohne Krankenschein, vermarktet als romantische Komödie, ist eine Art letztes Aufbäumen des linksliberalen, leicht subkulturell angehauchten Hollywoods gegen die Ära Bush. Darin hat der Film durchaus etwas von einer Art Flaschenpost. Dass der Film nicht in allem ganz treffsicher und mitunter unausgewogen produziert ist und zudem dramaturgisch manchmal sehr schwankt, lässt ihn eher als jenen Steinbruch erscheinen, der er produktionshistorisch gesehen de facto ja auch ist. Dennoch, als anarchische Komödie ist der Film keineswegs ohne Reiz, sondern ganz im Gegenteil über weite Strecken auf ziemlich bösartige bis beknackte Weise sogar zum Schreien komisch (zugegeben, das trifft vor allem auf die ersten ca. 30 Minuten zu — danach versandet der Film etwas).

Und überhaupt, Stichwort Flaschenpost: Im Jahr 2008 ist Liebe ohne Krankenschein selbstverständlich noch auf 35mm-Material entstanden, was sich in diesem Film insbesondere in der Farbgebung und den schöne Kontrasten zeigt. Auch in dieser Hinsicht ist Liebe ohne Krankenschein ein Film aus einer anderen, gar nicht mal so lange zurückliegenden Zeit.

Liebe ohne Krankenschein

Mit „Silver Linings“, „American Hustle“ und „Joy: Alles Außer gewöhnlich“ hat sich der Filmemacher David O. Russell in den vergangenen Jahren als Garant für sowohl oscar-, als auch publikumstaugliche Filme erwiesen. Vorausgegangen waren diesem beeindruckenden Siegeszug Filme wie der schöne Boxerfilm „The Fighter“ und der mit den Mechanismen der generischen Sundance-Komödie zwar hantierende, aber dennoch eigenständige „I Heart Huckabees“, die Russell bereits als eine der interessanteren Stimmen in jenem Segment des US-Gegenwartskinos zwischen künstlerischer Ambition und Publikums-Reichweite etablierten.
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