Der kleine Lord (1994)

Eine Filmkritik von Marie Anderson

Fatale Fernsehversion eines respektablen Klassikers

Die britische Schriftstellerin Frances Hodgson Burnett (1849-1924) hat mit ihren sensiblen Werken wie Der geheime Garten / The Secret Garden (1911) und Der kleine Lord / Little Lord Fauntleroy (1886) ganze Generationen von kleinen und großen Lesern berührt. Vor allem letztere Erzählung erfuhr zahlreiche filmische Adaptionen, wobei die britische Version von Jack Gold aus dem Jahre 1980 mit Alec Guinness als Earl of Dorincourt und Ricky Schroder als Cedric wohl die bekannteste darstellt und ihren festen Platz im weihnachtlichen Fernsehprogramm nicht nur hierzulande innehat. Die italienisch-deutsche Koproduktion von 1994, die nun als schmucke Special Edition bei Studiocanal erschienen ist, präsentiert eine moderne Version der Geschichte mit Marianne Sägebrecht und Mario Adorf, die eine recht freizügige Distanz zur ursprünglichen Geschichte aufweist.

Regisseur Gianfranco Albano hat nach einer Idee von Produzent Mario Rossini und dem Drehbuch von Lorenzo und Sergio Donati ein uriges Fischerdorf auf Ischia als Kulisse für die Umgebung ausgewählt, in welcher der elfjährige Christian (Francesco De Pasquale) mit seiner Mutter Gioia (Antonella Ponziani) lebt, die sich als Ärztin um körperlich beeinträchtigte Kinder kümmert. Christians gleichnamiger Vater (Armando De Ceccon), der bereits vor seiner Geburt verstarb, entstammte der wohlhabenden Familie des bayerischen Brauereibesitzers Carl Schneibel (Mario Adorf), und nun reist dessen herzensgute Hausdame Klara (Marianne Sägebrecht) nach Ischia, um für ihren Chef den potenziellen Enkel zu sichten, zu dem bislang kein Kontakt bestand. Sogleich entsteht eine zugeneigte Beziehung zwischen Christian und Klara, und bald trifft der alte Schneibel persönlich ein, um seinen Enkel kennen zu lernen …

Bereits bei der Einführung der Figuren gestalteten sich die Charakterzeichnungen von Der kleine Lord derart stereotyp und übertrieben, dass sich der Zuschauer in einem filmischen Groschenroman mit allein auf rührselige Effekte abzielender, aufdringlicher Sentimentalität wähnt, der seine Protagonisten erbarmungslos der unglaubwürdigen Lächerlichkeit ausliefert. Auf smarter Sonnenschein getrimmt erscheint der kleine Christian als Mini-Gutmensch und unerträglicher Klugscheißer, was sich in seiner Begegnung mit dem grummeligen, aufs Schmelzen gierigen Großvater später noch potenziert. Bis zur Unerträglichkeit gefallsüchtig und mit scheinbar universeller Alltagsweisheit ausgestattet rotten sich die Dialoge zu gewaltigen Zeigefingerphilosophien zusammen, die auch durch das bemüht konterkarierende Schauspiel von Marianne Sägebrecht und Mario Adorf kaum gemildert werden können. Die offensichtliche Intention dieses mitunter geradezu unfreiwillig satirisch anmutenden Dramas, den gefühlvollen Stoff bewegend in zeitgemäße Zusammenhänge zu überführen, scheitert auch mit der albernen Konfliktinszenierung, die in allumfassender Harmonieseichtheit gipfelt.

Auch wenn es sicherlich reichlich und auch absichtlich brutalere Schmonzetten gibt und das Bedürfnis nach sowie das Recht auf Kitsch zweifellos einen Daseinszweck der Filmindustrie darstellt, vermittelt Der kleine Lord als lockere Literaturverfilmung eines respektablen Klassikers doch allzu stark den Eindruck, sein potenzielles und tatsächliches Publikum gewaltig zu unterschätzen. Erstaunlicherweise haben sich die Hauptdarsteller im Jahre 2000 mit Der kleine Lord – Retter in der Not / Il ritorno del piccolo lord erneut auf diese kaum erträgliche Geschichte eingelassen, die im Grunde lediglich einen starken Titel benutzt, um drittklassige, regelrecht peinliche Unterhaltung zu vermarkten.
 

Der kleine Lord (1994)

Die britische Schriftstellerin Frances Hodgson Burnett (1849-1924) hat mit ihren sensiblen Werken wie „Der geheime Garten“ / „The Secret Garden“ (1911) und „Der kleine Lord“ / „Little Lord Fauntleroy“ (1886) ganze Generationen von kleinen und großen Lesern berührt.

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