Nicht der Homosexuelle ist pervers, sondern die Situation, in der er lebt (1971)

Eine Filmkritik von Stefan Dabrock

Raus aus den Toiletten, rein in die Straßen!

1969 wurde der §175 des Strafgesetzbuches, der sexuelle Handlungen zwischen Männern unter Strafe stellte, reformiert. Seitdem konnten erwachsene Männer in der Bundesrepublik Deutschland ihre Homosexualität ausleben, ohne die Ordnungsmacht des Staates zu fürchten. Abgeschafft wurde der Paragraf aber erst 1994. 1971 drehte Rosa von Praunheim die provokante Scheindokumentation Nicht der Homosexuelle ist pervers, sondern die Situation, in der er lebt, um Schwule wie Heterosexuelle gleichermaßen aus ihren gedanklichen Rückzugsorten herauszulocken. Von Praunheim wollte Öffentlichkeit schaffen, weil die Mehrheit der Menschen in der Bundesrepublik Deutschland lieber zum nächsten Thema wechselte. Über Homosexualität zu reden, war unangenehm.

Geschickt übernahm von Praunheim den Gestus typischer Aufklärungsfilme, in denen mit glasklarem Kommentar das jeweils gewählte sexuelle Thema unter das Volk gebracht wurde. Bei ihm begleitet Volker Eschke als Erzähler den Weg des schwulen Daniel (Bernd Feuerhelm), der aus der Provinz nach Berlin kommt. Dort trifft Daniel auf Clemens (Berryt Bohlen), mit dem er zunächst eine ruhige Beziehung führt. Auf die Dauer wird ihm das aber zu öde und so lässt sich Daniel von einem reichen Mann abschleppen, um fortan seinen Spaß in einer üppigen Villa zu haben. Doch auch diese Tage sind gezählt, als sein vermögender Liebhaber einen anderen jungen Schwulen attraktiver findet. Daniel treibt sich nun in der Subkultur der Bars, Parks und Toiletten herum, in der er ein triebhaftes Leben ohne Erfüllung führt.
Schauplatz der Erlebnisse des schwulen Daniel ist im Wesentlichen die Berliner Subkultur Homosexueller. Sie wird mithilfe des Filmkommentars provokant zugespitzt dargestellt. Denn „Lederschwule erwarten Strafe, da sie das Gefühl haben, vor sich und der Gesellschaft versagt zu haben. Sie sind höfliche und nette Menschen, die unter ihrer Schwäche leiden.“ Solche und ähnliche Äußerungen werfen zunächst kein gutes Licht auf die Schwulen. Aber der sprachliche Gestus zwischen Parodie und sachlicher Ernsthaftigkeit hat einen trickreichen Effekt. Er pendelt so geschickt zwischen den Polen hin und her, dass man es sich nicht bequem machen kann.

Schwule dürfen sich angesprochen fühlen, wenn sie zur verzweifelten Selbstabdrängung in eine Marginalisierungsszene ohne dauerhafte Befriedigung neigen. Leben sie als brav angepasste Bürger, dann trifft sie ohnehin das scharfe Schwert der Worte: „Da die Schwulen vom Spießer als krank und minderwertig verachtet werden, versuchen sie noch spießiger zu werden, um ihr Schuldgefühl abzutragen mit einem Übermaß an bürgerlichen Tugenden. Sie sind politisch passiv und verhalten sich konservativ als Dank dafür, dass sie nicht totgeschlagen werden“.

Aber auch Heterosexuelle können sich nicht davonstehlen, weil sie entweder die gezeigte Subkultur aus ständig wechselnden Sexualpartnern, Kleidungskult und Schönheitswahn ablehnen und damit diskriminierend ausgrenzen müssen. Oder aber um die Erkenntnis nicht herumkommen, dass alles differenzierter sein könnte. Im ersten Fall entlarven sie sich selbst, im zweiten Fall muss eine Auseinandersetzung folgen.

So eindeutig von Praunheim auch die brachial-analytischen Kommentare zur Schwulenszene gestaltet hat, so vage bleibt das gezeigte Szenario aufgrund der künstlichen Machart. Die Dialoge der Menschen erklingen nicht synchron zu den Mundbewegungen. Beim gockelhaften Cruising-Ritual der Lederschwulen gibt es erst gar keinen Ton, als wollte von Praunheim das Posing akzentuieren. Immer wieder sehen die Menschen aus, als habe man sie für die Stillleben drapiert. Der Widerspruch zwischen dem Aufklärungsgestus und der geradezu theatralischen, ungeerdeten Welt verleiht dem Film eine zeitlose Note, weil sich daraus eine Unklarheit ergibt, die immer wieder zum Nachdenken über die aktuelle gesellschaftliche Situation auffordert. Entstanden ist der Film aus einer antibürgerlichen Haltung des linken Spektrums der Endsechziger Jahre heraus, die das kapitalistische System, den Konsum und Institutionen wie die Ehe ablehnte. Aber die offene Machart verhindert (möglicherweise ungewollt), dass das am Ende zur Schau gestellte Kommunardenideal als Lösung wahrgenommen werden kann. Die gezeigte Situation mag schlecht sein, aber die Schlussfolgerungen sind noch zu ziehen.

Veredelt wird die vorbildliche Blu-Ray-Edition durch das reichhaltige Bonusmaterial, zu dem neben einem knapp 12-minütigen Videogrußwort des Regisseurs Rosa von Praunheim aus dem Jahr 2014 auch eine gut 90-minütige Fernsehdiskussion aus dem Jahr 1972 gehört. Darin diskutieren unter der souveränen Leitung des Journalisten Reinhard Münchenhagen unter anderem ins Studio eingeladene Schwule, Rosa von Praunheim, der Sexualwissenschaftler Martin Dannecker und Politiker über die Situation Homosexueller und die inhaltliche Ausrichtung des Films. Ein ebenso spannendes Zeitdokument wie die ebenfalls auf der Blu-Ray enthaltene Publikumsdiskussion, die 1972 in New York anlässlich einer Ausführung des Films stattfand.

Im 18-seitigen Booklet wird der Film analysiert und die kontroversen Reaktionen werden zusammengefasst – immerhin scheiterte 1972 ein erster Versuch, den Film in der gesamten ARD zu zeigen (nur der WDR ließ sich nicht davon abbringen), und bei der schließlich doch stattfindenden ARD-Ausstrahlung klinkte sich der Bayrische Rundfunk aus. Daneben enthält es Texte über Rosa von Praunheim, den Skandal, den der Film verursachte und ein Interview mit dem Regisseur.
 

Nicht der Homosexuelle ist pervers, sondern die Situation, in der er lebt (1971)

1969 wurde der §175 des Strafgesetzbuches, der sexuelle Handlungen zwischen Männern unter Strafe stellte, reformiert. Seitdem konnten erwachsene Männer in der Bundesrepublik Deutschland ihre Homosexualität ausleben, ohne die Ordnungsmacht des Staates zu fürchten. Abgeschafft wurde der Paragraf aber erst 1994. 1971 drehte Rosa von Praunheim die provokante Scheindokumentation „Nicht der Homosexuelle ist pervers, sondern die Situation, in der er lebt“, um Schwule wie Heterosexuelle gleichermaßen aus ihren gedanklichen Rückzugsorten herauszulocken.

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