Ein Engel an meiner Tafel (Blu-ray)

Eine Filmkritik von Rajko Burchardt

Jane Campions Meisterwerk

Glaubt man dem Schauspieler Sam Neill und seinem sehr persönlichen Heimatfilm-Essay Cinema of Unease, hat das Kino Neuseelands erst spät zu einer eigenen Identität gefunden. Einer Form, und schließlich auch einer souveränen Filmindustrie, die sich mit Roger Donaldsons Politthriller Schlafende Hunde erst zögerlich herauszubilden begann, um dann Anfang der 90er Jahre von Jane Campion in die Welt getragen zu werden.
Deren zweite Kinoregiearbeit, Ein Engel an meiner Tafel, gilt als erste neuseeländische Produktion, die es in den Wettbewerb des Filmfestivals von Venedig schaffte. Dort wurde das Künstler-Biopic schließlich mit insgesamt sieben Auszeichnungen bedacht und gewann unter anderem den Großen Preis der Jury. Ein ganz plötzlich ins Rollen gebrachter Cine-Siegeszug des abseitigen Inselstaates, dem sich Filmemacher wie Lee Tamahori oder Peter Jackson ebenso zügig wie erfolgreich anschlossen. Der Rest ist, wie man nur zu gut weiß, neuseeländische Film- und Tourismusgeschichte „Made in Mittelerde“.

Obgleich erst Das Piano ihr den ganz großen Durchbruch (und die Palme d’Or, den Golden Globe, den Oscar) verschaffen sollte, muss bereits Ein Engel an meiner Tafel als Jane Campions Meisterwerk bewertet werden. Es ist der Film, an dem sich ihr nicht selten auch abschätzig unterstellter weiblicher Subjektivismus am sinnlichsten – und zugleich unmittelbarsten – nachvollziehen lässt. An dem er sich über die Lebenserzählung einer Schriftstellerin selbst entwirft, um sowohl neuseeländische Literaturgeschichte rekonstruieren als auch die eigene (ja, sehr feminine) Autorenschaft bestätigen zu können. Und es ist unter den vielen großartigen Campion-Filmen derjenige, der ihre visuelle Handschrift – und damit ihren manchmal allzu vordergründigen Stil – insofern unter Verschluss hält, als die neuseeländische Romanautorin Janet Frame, die so wunderschön eigenwillige Poetin mit den nicht zu bändigenden roten Locken, sogar ästhetisch zum Motor dieser ihrer eigenen Geschichte wird.

Frame, geboren 1924, wächst im neuseeländischen Dunedin als drittes von fünf Kindern unter ärmlichen Bedingungen auf. Zwei ihrer Schwestern sterben, der Bruder leidet unter schwerer Epilepsie. Schon früh entwickelt Frame die Leidenschaft für das Schreiben, von ihrem Vater erhält sie ein Notizbuch, um darin Gedichte festzuhalten. Campions Film ist, genau wie die autobiographische Vorlage, in drei Teile gegliedert: „To the Is-Land“ beschreibt Kindheit und Jugend der angehenden Schriftstellerin, „An Angel at My Table“ ihren folgenschweren Aufenthalt in einer Nervenheilanstalt, „The Envoy from Mirror City“ den befreienden Aufbruch nach Europa. Während ihres Studiums diagnostizieren dubiose Ärzte bei ihr (fälschlicherweise) Schizophrenie, acht Jahre ihres Lebens verbringt Frame anschließend in einer psychiatrischen Klinik. Die insgesamt 200 Elektroschockbehandlungen hätten sich jedes Mal wie eine Exekution angefühlt, wird sie die Qualen später zu schildern versuchen, in ihrem auch hierzulande veröffentlichten Roman „Wenn Eulen schrein“. Mit 79 Jahren stirbt Janet Frame 2004 an Leukämie, kurz zuvor wird sie zum wiederholten Male für den Literaturnobelpreis vorgeschlagen.

Drei Zeitabschnitte und drei Schauspielerinnen, die Frame ein Leinwandbild verleihen. Wie Karen Fergusson, Alexia Keogh und schließlich Kerry Fox in ihrem Filmdebüt ganz eigene Interpretationen dieser so faszinierenden, letztlich unergründlich verschlossenen Figur erarbeiten, ist auch unter Jane Campions unvergleichlich einfühlsamer Schauspielunterführung eine überwältigende, zugleich intime Erfahrung. Bei Fox, die Ein Engel an meiner Tafel zwei Drittel lang allein zu schultern vermag, genügt schon beinahe der Blick in diese großen, von Ausdruck erfüllten Augen, um die Weltverlorenheit ihrer Janet Frame schmerzlich zu spüren. Campion nutzt die nur scheinbar geradlinige Dramaturgie der biographischen Episoden dabei wiederum für eine assoziative, an der Wahrnehmung ihrer Protagonistin orientierte Erzählhaltung: sie verkürzt einzelne Abschnitte, erweitert andere Stationen um entscheidende Details, nutzt gar so großzügig Auslassungen, dass Janet Frame auch als eine Frau gefasst wird, deren Komplexität selbst mehr als 150 Minuten Laufzeit lediglich annähernd gerecht werden können.

Wenngleich Ein Engel an meiner Tafel zu den meistprämierten und international höchstgefeierten neuseeländischen Filmen überhaupt zählt, ist er in Deutschland weitgehend unbekannt geblieben. Bisher zumindest. Dank Koch Media und ihrer (in diesem Fall adäquat betitelten) Reihe „Masterpieces of Cinema“ feiert er hierzulande nun seine längst überfällige Veröffentlichung auf DVD und Blu-ray. Im Gegensatz zur US-amerikanischen Criterion-Ausgabe liegt das qualitativ hervorragende Bild sogar im Originalformat (1,66:1) vor, die Extras sind mit einem kurzen Making-Of, geschnittenen Szenen sowie Trailer und Werbematerial bis auf den (leider) fehlenden Audiokommentar von Jane Campion und Kerry Fox weitgehend identisch. Alternativ zur Synchronfassung lassen sich auch der (hier ganz besonders dringliche) englische Originalton und deutsche Untertitel abrufen. Fehlt also eigentlich nur noch die nötige Anerkennung dieses großartigen Films in Deutschland.

Ein Engel an meiner Tafel (Blu-ray)

Glaubt man dem Schauspieler Sam Neill und seinem sehr persönlichen Heimatfilm-Essay „Cinema of Unease“, hat das Kino Neuseelands erst spät zu einer eigenen Identität gefunden. Einer Form, und schließlich auch einer souveränen Filmindustrie, die sich mit Roger Donaldsons Politthriller „Schlafende Hunde“ erst zögerlich herauszubilden begann, um dann Anfang der 90er Jahre von Jane Campion in die Welt getragen zu werden.
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