Das beständige Gleiten der Begierde

Eine Filmkritik von Stefan Dabrock

Die fließende Existenz

Für den französischen Schriftsteller, Drehbuchautor und Regisseur Alain Robbe-Grillet sind Raum, Zeit und Erzählfluss ein Experimentierfeld, auf dem er mit selbstsicherer Gewandtheit seine persönlichen Arrangements zusammengestellt hat. Während der vorherige Film Eden und Danach (L’éden et après, Frankreich/Tschechoslowakei) noch etwas kantige Züge trägt, besticht der 1974 fertiggestellte Das beständige Gleiten der Begierde durch eine harmonische Montage der einzelnen visuellen Motive.
Eine junge Frau ohne Namen (Anicée Alvina) wird in eine Klosterzelle gebracht, weil ihre Mitbewohnerin Nora (Olga Georges-Picot) im gemeinsamen Appartement ermordet wurde. Ein Polizist (Jean-Louis Trintignant), ein Priester (Jean Martin), eine Nonne (Claude Marcault), eine Anwältin (Olga Georges-Picot) und ein Richter (Michael Lonsdale) befassen sich nacheinander mit der Beschuldigten, um den Geschehnissen auf den Grund zu gehen, die sich bis zum Mord in der Wohnung abgespielt haben. Dabei stoßen sie jedoch schnell an ihre Grenzen, weil sie einerseits den unschuldig wirkenden Reizen der Gefangenen zugetan sind und andererseits deren Erzählungen zu keinem logischen Gerüst zusammenfügen können.

Mit radikaler Konsequenz beschränkt sich Robbe-Grillet auf die vier Handlungsorte der Klosterzelle, der Wohnung, des Klosterverlieses und einer traumartigen Küstenlandschaft. Dabei dominiert in den spartanisch ausgestatteten Appartementräumen und der Zelle die Farbe Weiß, während das Verlies mit wuchtigem Gemäuer sowie erdigen Tönen an eine artifizielle Variation saftiger Mittelalterfantasien erinnert. Durch die sphärisch-leichte Optik der meisten Szenen fallen wiederkehrende Motive wie eine zerbrochene Glasflasche, ein Bettgestell oder der ausdrucksstarke Umgang mit roter Farbe besonders ins Auge. Sie sorgen für eine Verknüpfung logisch kaum miteinander zusammenhängender Bilder, aus denen sich ein kunstvolles, assoziatives Motivpanorama ergibt. Während das Bettgestell in der Meeresbrandung surreal wirkt, steht die zerbrochene Glasflasche für ein kriminalistisches Detail vom Mordschauplatz. Robbe-Grillet ordnet beides jedoch immer neuen Schauplätzen zu, sodass sich ihre Wahrnehmung und Bedeutung einer klaren Entschlüsselung entzieht. Im Zentrum steht immer das Rätsel, das sich nie auflösen lässt.

Durch den geschmeidigen Schnitt, die sexuelle Natürlichkeit der Gefangenen und das zunehmend lüsterne Verhalten der Personen in ihrer Umgebung hält aber schnell die titelgebende Begierde Einzug. Sie ist neben den optischen Reizen ein wichtiger inhaltlicher Kristallisationspunkt für das Geschehen. Während sich der Begriff einer klaren Realität im gleichberechtigten Miteinander aus Traum, Fantasie, widersprüchlichen Schilderungen vergangener Ereignisse und ausgeübtem Zwang immer weiter auflöst, sind Lust und Begierde unverrückbare Konstanten. Sobald sich die Anwältin, der Priester oder weitere Personen länger mit der Gefangenen unterhalten, werden sie durch deren unschuldigen Umgang mit sexuellen Themen in eine Welt hineingezogen, die sie bislang oft unterdrückt haben. Der Priester will schwitzend-hechelnd möglichst viele Details über die anzüglichen Vorgänge im Folterverlies wissen und die Anwältin gibt sich irgendwann ihrer Lust hin. Da aber stets offenbleibt, was Fantasie und was Realität ist, bezieht Robbe-Grillet auch den Zuschauer mit ein, der hier seine eigenen Projektionen der Begierde vorgesetzt bekommt.

Geschickt fügt sich alles zu einer artifiziell-erotischen Fantasie zusammen, bei der mit nackten Frauen nicht gegeizt wird, weil Robbe-Grillet im weiblichen Körper das Zentrum für Lust und Freiheit sieht. Verführung und Zwang, Unterdrückung und Ausbruch verbinden sich zu einem irrsinnigen Werk visueller Schönheit, in dem sinnliche Momente ebenso zu Hause sind, wie die Entlarvung bigotter Verklemmtheit, der virtuose Bruch mit logischen Prinzipien und die Erkenntnis, dass die Existenz immer dahinfließt. Ihre variable Form bleibt ein Rätsel, in das man sich einfügen kann, das sich aber nie fassen lässt. Ein Ende existiert nicht, denn die Harmonie des Kreises wird am Schluss auf eindrucksvolle Weise beschworen.

Die Schärfe der DVD ist absolut überzeugend. Das gute Master ist kaum verschmutzt und nur ganz am Ende taucht für ein paar Sekunden ein gut sichtbarer analoger Defekt auf. Ansonsten macht die Schärfe mit klaren Konturen und einem sehr ordentlichen Detailreichtum eine gute Figur. Die knackigen Farben und der ausgewogene Kontrast fügen sich nahtlos in das schöne Erscheinungsbild ein. Die 2.0-Mono-Tonspuren klingen klar und verständlich.

Wie Teil 1 der Robbe-Grillet-Collection (Eden und Danach) enthält auch die zweite Veröffentlichung ein gut 30-minütiges Interview mit dem Regisseur. Naturgemäß weigert sich Robbe-Grillet, sein Werk allzu klar zu entschlüsseln, aber er ordnet einige Motive übergeordnet-künstlerisch ein und hat auch ein paar schöne Anekdoten über die Dreharbeiten parat. Ein sehr schönes, klar und prägnant geführtes Interview. Eine Bildergalerie ist ebenso enthalten. Im 16-seitigen Booklet, das in identischer Form auch in der DVD zu Eden und Danach enthalten ist, befindet sich ein lesenswerter Text des Filmwissenschaftlers Marcus Stiglegger über das Werk Robbe-Grillets.

Das beständige Gleiten der Begierde ist eine ebenso sinnliche wie intellektuell kunstvolle Auseinandersetzung mit Rollenmustern, verdrängter Sexualität und dem Wesen der Existenz.

Das beständige Gleiten der Begierde

Für den französischen Schriftsteller, Drehbuchautor und Regisseur Alain Robbe-Grillet sind Raum, Zeit und Erzählfluss ein Experimentierfeld, auf dem er mit selbstsicherer Gewandtheit seine persönlichen Arrangements zusammengestellt hat. Während der vorherige Film „Eden und Danach“ („L’éden et après“, Frankreich/Tschechoslowakei) noch etwas kantige Züge trägt, besticht der 1974 fertiggestellte „Das beständige Gleiten der Begierde“ durch eine harmonische Montage der einzelnen visuellen Motive.
  • Trailer
  • Bilder

Meinungen