Die Liebenden des Polarkreises

Eine Filmkritik von Marie Anderson

Ein schicksalhaftes Bündnis

Angesichts wachsend fluktuierender menschlicher Beziehungen erscheint das Phänomen einer lebenslangen, romantischen, begehrenden Liebe geradezu atavistisch, auch wenn dramatische, literarische und filmische Welten nur allzu gern zur mannigfaltigen Heraufbeschwörung dieses aussterbenden Ideals neigen. Der spanische Drehbuchautor und Regisseur Julio Médem hat mit seinem Drama Die Liebenden des Polarkreises aus dem Jahre 1998 die Mission gewagt, eine stark durch persönliche Erfahrungen inspirierte Geschichte über dieses Thema zu inszenieren, die aus zweierlei Perspektive vom wechselhaften, eng verbundenen Schicksal einer Frau und eines Mannes erzählt, deren frühe intime Bindung ihr ganzes Leben beherrscht.
Ana (Sara Valiente) und Otto (Peru Medem) begegnen sich eines Tages als Schulkinder in Madrid, als Ana zutiefst traurig und kopflos davonläuft, nachdem ihre Mutter die Nachricht vom Tod ihres Vaters zur Schule mitbringt. Zwischen dem nachdenklichen, stillen kleinen Jungen und dem verstörten kleinen Mädchen entsteht spontan eine Verbindung jener Art, die geeignet ist, in die ganz großen Gefühle zu münden. Ana deutet Ottos plötzliches Auftauchen als eine Art Botschaft ihres verstorbenen Vaters, der nun eben in Gestalt des Jungen in ihrer Nähe weilt, und aus dieser Vorstellung schöpft sie reichlich Trost. Beider Namen sind zudem Palindrome, und dies erscheint als starkes Zeichen einer empfundenen Verwandtschaft, die von Anfang an beschlossene Sache ist und sich ihren Weg zu einer innigen Freundschaft und darüber hinaus bahnen wird. Dass Otto nach einem deutschen Piloten benannt wurde, den sein Großvater während des Zweiten Weltkriegs aus einem Baum gerettet hatte, wird später noch im Zusammmenhang mit den schicksalshaften Aspekten dieser kreisläufig angelegten Geschichte bedeutsam.

Nachdem Ottos Vater Álvaro (Nancho Novo) sich von seiner Familie getrennt hat und Otto allein bei seiner verletzten Mutter (Beate Jensen) verbleibt, geht er eine Beziehung mit Anas Mutter Olga (Maru Valdivielso) ein, so dass die Kinder sich regelmäßig sehen und Otto bisweilen zu Besuch kommt, als die neue Familie schließlich zusammenzieht. Insgeheim und unbemerkt von den Eltern, die froh sind über das unauffällig harmonische Verhältnis der Stiefgeschwister, entwickelt sich in der frühen Jugend eine heftige erotische Annäherung zwischen Ana (Najwa Nimri) und Otto (Fele Martínez), die in ihrem abgeschotteten Universum das Begehren und die Liebe miteinander entdecken. Aus permanenter Sehnsucht nach Ana fasst Otto dann den Entschluss, seine Mutter zu verlassen und Zimmertür an Zimmerür mit seiner Geliebten zu leben, um vor allem jede Nacht bei ihr zu sein.

Als unvermittelt Ottos Mutter stirbt, gerät der junge Mann von Schuldgefühlen geplagt komplett aus der Balance, stiehlt schließlich Geld von seinem Vater und verlässt die Familie. Ana (Kristel Díaz) überwindet nur allmählich ihre Verzweiflung darüber und geht schließlich eigene Wege, die sie in die Einsamkeit Lapplands führen, während Otto (Victor Hugo Oliveira) eine Ausbildung zum Piloten beginnt und sich ebenfalls in Richtung des Polarkreises bewegt, der stets eine besondere Bedeutung für die beiden hatte …

Abwechselnd aus Ottos und Anas Sichtweise heraus von der jeweiligen Erzählstimme des Kindes, Jugendlichen oder jungen Erwachsenen begleitet wird in ausführlichen, intensiven Rückblicken mit dem Fokus auf der Gefühlswelt der beiden ihre melancholische Geschichte erzählt, die von Einsamkeit, Sehnsucht, Liebe, Schicksal und dem Wunsch nach inniger, ewiger Verbindung handelt. Bereits als Kinder verbarrikadieren sich Ana und Otto emotional und spirituell in ihrer ganz eigenen Welt, geben sich Halt und Schutz vor dem im Grunde permanent fern erscheinenden Außen in seiner kalt anmutenden Distanz und gründen eine verschwörerische Zweiergemeinschaft, deren Gültigkeit auch nach Jahren nicht rissig wird und deren Wärme sie auch in Abwesenheit des Anderen permanent begleitet.

Mit Die Liebenden des Polarkreises ist Julio Médem ein starkes, schwergängiges und komplex an seinen signifikanten Motiven entlang inszeniertes Liebesdrama gelungen, das 1998 im Wettbewerb der Filmfestspiele von Venedig lief und unter anderem zweifach mit dem Goya für den Besten Schnitt von Iván Aledo und die Beste Musik von Alberto Iglesias ausgezeichnet wurde. Von kindlichen bis hin zu erwachsenen Befindlichkeiten kreisen die beiden ausführlich gezeichneten Hauptfiguren in enger Ausschließlichkeit umeinander, bilden ein Bündnis und ersehnen nichts als die Vereinigung nach ihrer Trennung, die Regisseur und Drehbuchautor Julio Médem auf ein tragisches Finale zuspitzt. So ansprechend und bewegend die Geschichte in ihrem idealistischen Schwermut auch gestaltet ist, kann sich der Zuschauer zwar punktuell mit den Empfindungen vor allem der Kinder identifizieren, doch letztlich bietet der geschlossene Duktus der Dramaturgie keinen Raum für Außenstehende, so dass der Film am Ende in einer Ferne verebbt, die keinen Ausblick gewährt und sein Publikum ratlos hinter sich lässt, ohne dass sich auch hier ein Kreis schließen kann.

Die Liebenden des Polarkreises

Angesichts wachsend fluktuierender menschlicher Beziehungen erscheint das Phänomen einer lebenslangen, romantischen, begehrenden Liebe geradezu atavistisch, auch wenn dramatische, literarische und filmische Welten nur allzu gern zur mannigfaltigen Heraufbeschwörung dieses aussterbenden Ideals neigen.
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