Oculus

Eine Filmkritik von Peter Osteried

Psychose oder Geisterheimsuchung?

Seinem preisgekrönten Kurzfilm ließ Mike Flanagan sieben Jahre später einen Langfilm folgen. Oculus ist mehr als nur ein Horrorfilm, in vielerlei Hinsicht ist er ein Drama. Wichtiger noch als das ist jedoch, dass er gruselig und atmosphärisch ist, ohne offensichtlich zu sein. Er spielt mit den Erwartungen des Zuschauers, auch und gerade, weil er sich nicht festlegt, was er diesen nun wirklich vorsetzt.
Nach mehr als zehn Jahren wird Tim aus der Psychiatrie entlassen. Er hat als Kind seinen Vater erschossen, weil er glaubte, dass dieser besessen war. Nun ist er 21, kommt frei und wird von seiner Schwester Kaylie abgeholt. Sie erinnert ihn daran, dass er nicht wahnsinnig war, dass der Spiegel in ihrem alten Haus wirklich das Böse ist. Sie konnte den Spiegel, der über die Jahre verschiedenen Besitzern gehörte, wieder aufspüren und in ihr altes Haus bringen. Nun will sie zusammen mit Tim beweisen, dass sie sich nicht eingebildet haben, was mit ihren Eltern passiert ist – und sie will den Spiegel zerstören. Aber wird dieser das zulassen? Falls beide nicht ohnehin nur an einer gemeinsamen Psychose leiden.

Das ist der faszinierende Aspekt von Oculus. Der Film ist in erster Linie ein Drama, das sich mit der Frage befasst, ob Erinnerungen aus der Kindheit durch das Bewusstsein eines Erwachsenen so sehr gefiltert werden, dass sie mit der Realität kaum noch etwas zu tun haben. Man kann den Film aber auch anders lesen: Als eine Beobachtung dessen, wie ein Trauma der Kindheit zwei Menschen aus der Bahn geworfen hat. Sie teilen eine gemeinsame Psychose, befeuern einander sogar, denn während Tim anfangs geheilt ist, zieht ihn seine Schwester wieder in eine Welt des Übernatürlichen, die nicht unbedingt existiert.

In der ersten Hälfte gestaltet sich der Film als lupenreines Drama. Der übernatürliche Aspekt ist behauptet, aber nicht gezeigt. Stattdessen gibt es eine Geschichtsstunde über den Spiegel und die Menschen, die in seiner Umgebung starben. Kaylie liefert einen detaillierten Bericht ab, den man auch durchaus als Obsession bezeichnen könnte. Sie sieht, was sie sehen will, so wie der Spiegel den Menschen zeigt, was er sie sehen lassen will. Realität und Einbildung gehen hier Hand in Hand.

In der zweiten Hälfte gibt es dann übernatürliche Elemente zu sehen, vor allem Geistererscheinungen, aber der Film beginnt recht clever, die Ereignisse der Gegenwart mit denen der Vergangenheit zu alternieren. Die Erinnerungen – oder verdrehten Erinnerungen – bedingen, was Kaylie und Tim nun erleben. Alles, was sie erleben, kann pure Einbildung sein. Wir sehen, was sie sehen, aber nicht das, was wirklich da ist.

In den entfallenen Szenen ist eine Nachklappe enthalten, die zu Recht entfernt wurde. Weil sie jede Ambivalenz zerstört, die ansonsten vorhanden ist. Es war weise, diesen Epilog zu entfernen, weil die Wirkung des Films so sehr viel stärker ist. Es kommt selten vor, dass man einen Genrefilm sieht, der sich seiner Sache so sicher ist und sich dabei clever jedweder Kategorisierung entzieht. Im Bonusmaterial ist übrigens auch der 32-minütige Kurzfilm Oculus: Chapter 3 – The Man with the Plan enthalten.

Oculus

Seinem preisgekrönten Kurzfilm ließ Mike Flanagan sieben Jahre später einen Langfilm folgen. „Oculus“ ist mehr als nur ein Horrorfilm, in vielerlei Hinsicht ist er ein Drama. Wichtiger noch als das ist jedoch, dass er gruselig und atmosphärisch ist, ohne offensichtlich zu sein. Er spielt mit den Erwartungen des Zuschauers, auch und gerade, weil er sich nicht festlegt, was er diesen nun wirklich vorsetzt.
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