Stummfilmklassiker Edition

Eine Filmkritik von Marie Anderson

Der Zauber des Beginns der bewegten Bilder

Die puristische Visualisierung einer Geschichte ohne oder mit nur minimaler Ergänzung von Worten der Schauspieler oder Informationen als eingeblendete Zwischentitel charakterisiert die besondere Kunstform des Stummfilms, der die früheste Film- und Kinogeschichte bestritten hat. Seit Mitte der 1920er Jahre eroberten zwar die technischen Möglichkeiten des Tons das Territorium des Films, doch der unvergleichliche Filmkünstler Charlie Chaplin beispielsweise verzichtete dennoch weiterhin gern mit grandiosen Werken wie Lichter der Großstadt / City Lights von 1931 und Moderne Zeiten / Modern Times aus dem Jahre 1936 auf diese Innovation. Auch moderne Stummfilme wie Silent Movie (1976) von Mel Brooks, Juha (1999) von Aki Kaurismäki und Der die Tollkirsche ausgräbt (2006) von Franka Potente als Ausnahmephänomene transportieren durchaus noch die Freude an diesem Format, dessen Klassiker in den letzten Jahren verstärkt auf DVD und Blu-ray erscheinen und auch das moderne Publikum erobern.
Mit fünf für die Stummfilmära signifikanten Werken wartet nun die Stummfilmklassiker Edition von Arthaus auf, flankiert von zahlreichen Extras, die das filmische Blühen jener vergangenen Tage mit aufschlussreichen wie spannenden Hintergrundinformationen begleiten. Hier gibt es einerseits Wohlbekanntes, häufig Zitiertes zu sehen und andererseits Neues zu entdecken, wobei die Konzentration auf die Aspekte der Mimik und Gestik des Schauspiels die gängigen Sehgewohnheiten gehörig herausfordert und gleichzeitig nostalgische Filmerfahrungen ermöglicht, die in vielerlei Hinsicht Vergnügen bereiten und auch eine altmodische Dramatik repräsentieren, deren Intensität berührt und bewegt.

Die Reise zum Mond / Le voyage dans la lune von Georges Méliès aus dem Jahre 1902 wird sowohl in seiner originären schwarzweißen Inszenierung als 13minütiger Kurzfilm musikalisch von Lawrence Lehérissey untermalt als auch in der aufwändig restaurierten und kolorierten Fassung mit Musik vom französischen Duo Air von 2011 präsentiert, wobei eine ausführliche Dokumentation die Geschichte dieser legendären ersten Science Fiction Komödie nachzeichnet. Da plant der französische Visionär Professor Barbenfouillis (Georges Méliès) eine Reise zum Mond, und nachdem das Projekt schließlich tatsächlich feierlich an den Start geht, landet die mit sechs schicken, mit Regenschirmen ausgestatteten Astronauten bemannte Kapsel ausgerechnet genau im rechten Auge des Mondgesichts. Nach einem Schläfchen auf dem Mondboden begegnet die Crew dann den ersten Außerirdischen der Filmgeschichte, die offensichtlich nicht gerade erfreut über die Besucher sind und zum Angriff ansetzen, doch am Ende dieses märchenhaft anmutenden Ausflugs kehren die Abenteurer wohlbehalten auf die Erde zurück – eine charmante kleine filmische Erzählung mit damals innovativer Zündkraft und ungebrochener Faszination.

Es ist sein Spielfilmdebüt, das der österreichische Regisseur Georg Wilhelm Pabst 1923 mit Der Schatz inszeniert hat, und retrospektiv als feinsinniges Drama mit sozialkritischem Hintergrund interpretiert verbreitet die Geschichte um eine Truhe kostbaren Inhalts, die in einer slowenischen Glockengießerei seit der türkischen Invasion im 17. Jahrhundert versteckt worden sein soll, den frischen Hauch von Aufbruch und Neubeginn. Zum Haushalt eines Meisters der Glockengießkunst (Albert Steinrück), der mit seiner Frau Anna (Ilka Grüning), seiner Tochter Beate (Lucie Mannheim) und seinem Gesellen Svetelenz (Werner Krauß) zusammenlebt, stößt der ansehnliche junge Goldschmied Arno (Hans Brausewetter), der sich sogleich für die hübsche Meisterstochter interessiert. Während sich zwischen diesen beiden recht rasch eine romantische Liebesbeziehung entwickelt, sind die übrigen Protagonisten mit der Legende um den Schatz beschäftigt, den sie im Haus vermuten, dessen Präsenz im Film beinahe den Charakter einer eigenen Rolle erhält. Um Beate zu erobern, beginnt auch Arno dem Schatz nachzuspüren, während der alteingesessene Svetelenz in beiderlei Hinsicht zu seinem Konkurrenten wird. Der im Bonusmaterial enthaltene Audiokommentar zum Film von Hermann Kappelhoff, Professor für Filmwissenschaft an der Freien Universität Berlin, und dem Filmwissenschaftler Marek Bringezu diskutiert auf unterhaltsame wie aufschlussreiche Art die Implikationen und Hintergründe dieses ansprechend rekonstruierten Films, der letztlich die rührende Botschaft transportiert, dass es keinen größeren Schatz als die Liebe gibt.

Unter den Abenteurern, die dem Ruf des glückverheißenden Goldes in das eisige Alaska des ausgehenden 19. Jahrhunderts folgen, befindet sich auch ein einsamer Tramp (Charlie Chaplin) ohne geeignete Ausrüstung, aber mit ungebrochenem Optimismus, der nach etlichen Entbehrungen am Ende tatsächlich zu einem reichen Mann wird und zudem die Liebe der schönen Georgia (Georgia Hale) gewinnt. Goldrausch / The Gold Rush von 1925 zählt zu den populärsten Werken des kuriosen Komikers, Filmemachers und Komponisten Charles Chaplin, der seinen persönlichen Favoriten innerhalb seines Schaffens 1942 modernisiert und mit neuer Musik sowie einem Erzähler ausgestattet hat, der auch die Dialoge intoniert. Innerhalb der Stummfilmklassiker Edition erscheinen beide Versionen dieser humorigen, hinreißenden Geschichte, die das American Film Institute in die Liste der 100 besten nationalen Filme aufgenommen hat.

Erst spät zu großen Ehren gelangte das vierstündige Stummfilm-Epos Napoleon / Napoléon aus dem Jahre 1927 des französischen Regisseurs Abel Gance, der sich bevorzugt mit historischen und politischen Stoffen beschäftigte, und zwar als Bearbeitung der aufwändig restaurierten Fassung des britischen Filmhistorikers Kevin Brownlow durch die Filmproduktion American Zoetrope, die 1981 mit neu komponierter Filmmusik von Carmine Coppola in New York uraufgeführt, bejubelt, von der Filmkritik ausgezeichnet wurde und erstmals 2012 bei Arthaus auf DVD erschien. Beginnend mit einer Schneeballschlacht unter den Kadetten einer Militärakademie wird hier das Leben und Wirken des Napoléon Bonaparte (Albert Dieudonné) von seinen Jugendtagen an bis zum Italienfeldzug idealistisch überhöht und mit technisch innovativer Raffinesse dargestellt. Abel Gance konzipierte seine Heroisierung dieser historischen Figur ursprünglich als noch um einige Stunden längeres Mega-Werk, das sich allerdings nicht realisieren ließ, aber die extreme Leidenschaft des Regisseurs für dieses Thema zum Ausdruck bringt.

Es ist eine unwegsame Geschichte, die das Stummfilmdrama Die Passion der Jungfrau von Orléans / La passion de Jeanne d’Arc des dänischen Filmemachers Carl Theodor Dreyer aus dem Jahre 1928 begleitet. Nachdem die Originalversion des Films kurze Zeit nach ihrem Erscheinen verbrannte und der Regisseur aus verbliebenem Material eine zweite Fassung erstellte, ging auch diese wenig später in Flammen auf, und erst 1951 wurde ein recht gut erhaltenes Negativ des Films aufgefunden, dessen restaurierte Version Carl Theodor Dreyer zwar als unangemessen empfand, die aber nichtsdestotrotz 1952 sehr erfolgreich auf der Biennale in Venedig präsentiert wurde und anschließend wieder im Kino zu sehen war. Erst 1981 tauchte dann völlig überraschend in Norwegen eine Kopie des Originalnegativs auf, die sorgfältig bearbeitet wurde, und es ist diese qualitativ hochwertige Fassung, die nunmehr auch auf DVD erhältlich ist und dieses außergewöhnliche Werk mit Maria Falconetti als Jeanne d’Arc würdig repräsentiert. Hélène Falconetti, die Tochter dieser französischen Theaterschauspielerin, deren Auftritt in Die Passion der Jungfrau von Orléans ihr einziger in einem langen Spielfilm bleiben sollte, berichtet in einem Interview unter den Extras der Edition auch von den Dreharbeiten mit Carl Theodor Dreyer, die ihre Mutter im Gegensatz zu den Gerüchten von Journalisten, dass diese eine Tortur für die Actrice gewesen sein sollen, als geradezu perfekt beschrieben habe.

Fünf Filme auf sechs DVDs der Stummfilmklassiker Edition mit höchst interessantem Bonusmaterial laden dazu ein, das Universum dieser markanten Kunstform in ihren unterschiedlichen Ausprägungen zu entdecken und sich von dem Zauber der Anfangsjahre der bewegten Bilder nachhaltig berühren zu lassen.

Stummfilmklassiker Edition

Die puristische Visualisierung einer Geschichte ohne oder mit nur minimaler Ergänzung von Worten der Schauspieler oder Informationen als eingeblendete Zwischentitel charakterisiert die besondere Kunstform des Stummfilms, der die früheste Film- und Kinogeschichte bestritten hat.
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