American Mary

Eine Filmkritik von Lida Bach

Anatomie

Es gibt keine Schönheit, die das Bizarre nicht zu steigern vermag, notierte einst Charles Baudelaire. Die Regisseurinnen und Schwestern Jen und Sylvia Soska haben reichlich von dieser Weisheit getrunken und ziehen mit daraus ihre eigene cineastische Blume des Bösen. American Mary heißt das Exemplar der seltenen Gattung hintergründiger Horrordramen.
Die Titelfigur (Katharine Isabelle) ist Studentin der Chirurgie und bewirbt sich, um ihre Studiengebühren aufzubringen, in einem Stripclub. Doch wo ein standardmäßiger Exploitationfilm beginnen könnte, öffnet sich ein Panoptikum raffinierter Schrecken. Clubbesitzer Billy Barker (Antonio Cupo) ist beeindruckt von Marys außergewöhnlichen Fähigkeiten: bei plastischen Operationen, die alles andere als mustergültig sind.

Zu einer solchen wird Mary in der Strip Bar gerufen, als sie dort beim Vorstellungsgespräch ihren medizinischen Hintergrund erwähnt. Eine blutige Angelegenheit muss bereinigt werden und Mary verfügt über die erforderliche medizinischen Qualifikationen und Diskretion. Die Rechnung, dass nacktes Fleisch gleich schnelles Geld ist, bleibt die selbe, nur der Gewinn ist entschieden höher. Zuerst sieht Mary ihn nur in der großzügigen Bezahlung, die sie für Hinterzimmeroperation erhält. Dann lernt sie die Tänzerinnen Betty Boop und Barbie kennen und deren Untergrundgemeinde aus Anhängern extremer Körpermodifizierung, die ihrer neuen Privatchirurgin sowohl Achtung als auch Kameradschaft entgegenbringt. Die Eingriffe, die Mary an der zahlungswilligen Klientel durchführt, sind weder medizinisch indiziert noch rational. Im Gegenteil: Sie widerstreben dem, was in der Massenkultur als „schön“ und „gesund“ gilt. Die kanadischen Soska-Schwestern heißen nicht zu Unrecht The Twisted Twins, beweist ihr doppelbödiges Horrorvarieté. Ihre in schmeichlerische Film-Noir-Optik gehüllte Story schlägt gekonnt den Bogen von ästhetischer Provokation zu Gesellschaftskritik.

Betty Boop heißt tatsächlich Beatress (Tristan Risk), deren Ziel es ist, ihr Comicidol zu verkörpern. Ihre Stimme hat die Stripperin bereits zum Cartoon-Säuseln moduliert; die letzten Details soll Mary operativ modulieren. Beatress´ Kollegin Ruby Realgirl (Paula Lindberg) geht in ihrem Bestreben, Barbie zu gleichen so weit, sich die Geschlechtsmerkmale entfernen lassen zu wollen. Zu ihrem Wunschbild gehört es dabei, nicht mehr als Sexualobjekt wahrgenommen zu werden. Die Tänzerin ist die groteske Inkarnation eines verführerischen, doch keuschen Frauenideals, das sich um nicht Objekt zu sein einem Objekt anpassen muss. Dieses Paradox reicht bis in ihren Namen, der eine Geschlechtsidentität vorgibt, die gezielt beseitigt wurde. Während die üblichen Krimi-Doktoren Verbrechern eine fremde Identität verpassen, verhilft die von ihrem grotesken Umfeld bald „Bloody Mary“ genannte Protagonistin ihren Kunden zu deren wahrem Ich. Das gleiche gilt umgekehrt für Mary, die im Männerzirkel der Professoren nur als Schauobjekt geduldet wird. Die Gemeinde der Körperkünstler hingegen respektiert sie für ihr fachliches Können.

Jeder Schnitt mit dem Skalpell durchtrennt eines der dünnen Bande zu ihrem frustrierenden Universitätsalltag. Bezeichnenderweise erlebt sie gerade dort das Trauma, das sie schließlich über einem unfreiwilligen Patienten zum Messer greifen lässt. Das filmische Grand Guignol der Soska-Schwestern setzt pointierte Schockmomente, inspiriert von Cronenbergs Körperwelten, den Seelenabgründen David Lynchs und der Selbstverwandlungskunst einer Cindy Sherman.

Ihre zweite Regiearbeit American Mary demaskiert das allgegenwärtige sozialmoralische Konformitätsdiktat als eigentliche Perversion. Nicht die selbstbestimmte Body-Modification der sympathischen Ansammlung von Operations-Fetischisten entpuppt sich als pervers, sondern die vermeintlich gesunde Gesellschaft. Ihr permanenter Zwang zur Selbstnormalisierung ist in diesem ungewöhnlichen Psychothriller der wahre Körperhorror.

American Mary

Es gibt keine Schönheit, die das Bizarre nicht zu steigern vermag, notierte einst Charles Baudelaire. Die Regisseurinnen und Schwestern Jen und Sylvia Soska haben reichlich von dieser Weisheit getrunken und ziehen daraus ihre eigene cineastische Blume des Bösen. „American Mary“ heißt das Exemplar der seltenen Gattung hintergründiger Horrordramen.
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