Tausendschönchen (1966)

Eine Filmkritik von Harald Mühlbeyer

Wahnsinn als Methode

Zwei junge Frauen stellen fest: Die Welt ist verdorben. Und sie beschließen: Also wollen auch sie verdorben sein. Sie sitzen dabei – in schwarz-weiß – in einer Art Strandkorbverschlag, und sie bewegen sich mit knarzenden, quietschenden Bewegungen, als wären ihre Gelenke nicht geölt. Nach einem Sprung befinden sie sich im bunten Paradies, inklusive dem Baum der Erkenntnis von Gut und Böse, und wir befinden uns mitten in einem der seltsamsten, lustigsten, verwunderlichsten Filme, der ziemlich beispiellos in der Filmgeschichte dasteht.

Tausendschönchen von Vera Chytilova ist das wohl bekannteste Werk der kurzen Neuen Welle des tschechischen Kinos, das Mitte der 1960er Jahre ungeahnte Freiheiten kannte. Nicht nur in den USA mit den Hippies, nicht nur in Europa mit den Studentenbewegungen; nicht nur die Nouvelle Vague, das britische Free Cinema oder der Neue Deutsche Film – auch im sozialistischen Ostblock ging eine kulturelle Wandlung vor sich, die im Prager Frühling 1968 gipfelte – und von russischen Panzern brutal niedergedrückt wurde. Womit auch viele Filme der 1960er, darunter Tausendschönchen, verboten wurden.

Warum? Wahrscheinlich, weil keiner den Film verstand. Und auch heute ist er nicht zu verstehen, nicht eindeutig festzumachen; er ist einfach nicht zu fassen. Die Protagonistinnen – Marie 1 und Marie 2 heißen sie, aber auch das ist nicht sicher – tanzen durch ihre Welt. Ab und zu führen sie ältere Männer aus, die sich erotische Hoffnungen machen, doch im Restaurant legen die Girls alles andere als Manieren an den Tag, und irgendwann muss der hoffnungsvolle alte geile Mann zum Zug gebracht werden. Einmal befinden sich die beiden in einem Nachtclub, dort wird Charleston getanzt, das ganze hat Stummfilm-Faible, und die Maries treiben Slapstick-Unfug. Betrinken sich, pusten Strohhalme durch die Gegend und belästigen die Gäste. Später dann schneiden sie sich aus Katalogen Bilder von leckerem Essen aus und verspeisen das Papier; dazu zerschnippeln sie phallische Nahrungsmittel wie Karotten oder Bananen. Ins Telefon rufen sie ein fröhlichen „Stirb, stirb, stirb“, sie baden in Milch, ein klavierspielender Schmetterlingssammler wird in seiner ach so großen Liebe zu einer der Maries verhöhnt. Am Ende zerstören sie ein reiches Büffet, Geschirr und Essen werden völlig zermantscht, Besäufnis, Tortenschlacht, Zerstörungsorgie und Modenschau in einem.

Die beiden kann man sich vorstellen irgendwo zwischen Ruby Tuesday und She’s a Rainbow, zwischen Pippi Langstrumpf und Werner „Das kann böööööse enden“ Enke. Und Chytilova experimentiert dabei fröhlich – und im selben Gestus wie ihre Protagonistinnen – mit dem Film selbst, der in schneller Schnittmontage, mit ständigen Farbwechseln, mit absurd-surrealen Bildinhalten, mit willkürlich scheinenden visuellen Tricks etwas vorwegnimmt, was bis heute nicht wieder eingetreten ist. Avantgarde und Dadaismus, Nonsens und Groteske pur – und stets mit einem Gestus, dass dies entweder alles oder nichts bedeuten muss.

Ein feministisches Pamphlet? Kritik am sozialistischen Zwangsstaat? Kritik am kapitalistischen Konsum? Absurdes Theater in einer verdorbenen Welt? Assoziative Collage? Ein Witz-Film oder ein ernsthafter Essay? Irgendwann, mitten im Film, zerschnippeln sich die Maries gegenseitig mit der Schere, nun kommt die Schule des tschechischen Animationsfilm (Stichwort: Jan Svankmajer!) ins Spiel: Kopf, Körper, Gliedmaßen sind getrennt, fliegen im Raum umher, und schnippedischnippedischnapp fragmentiert sich das Filmbild selbst. Und nein: Dies ist lange nicht das Ende des Films, am Ende gar erhalten die beiden eine zweite Chance und räumen alles wieder auf. Natürlich so, dass danach auch überhaupt nichts mehr in Ordnung ist.

Tausendschönchen (1966)

Zwei junge Frauen stellen fest: Die Welt ist verdorben. Und sie beschließen: Also wollen auch sie verdorben sein. Sie sitzen dabei – in schwarz-weiß – in einer Art Strandkorbverschlag, und sie bewegen sich mit knarzenden, quietschenden Bewegungen, als wären ihre Gelenke nicht geölt. Nach einem Sprung befinden sie sich im bunten Paradies, inklusive dem Baum der Erkenntnis von Gut und Böse, und wir befinden uns mitten in einem der seltsamsten, lustigsten, verwunderlichsten Filme, der ziemlich beispiellos in der Filmgeschichte dasteht.

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