96 Minuten

Eine Filmkritik von Lida Bach

Sekunden der Entscheidung

96 Minuten beherrscht die Leinwand für die Zeit, die der Titel nennt. 93 Minuten läuft Aimée Lagos´ aussichtsreiches Debüt. Die übrige Zeit braucht es, um die Wirkung der intensiven Filmfahrt abklingen zu lassen. Das raue Jugenddrama beginnt mitten im Geschehen: in einem Auto, in einem Überfall. Mit ihm hofft der 16-jährige Kevin (Jonathan Michael Trautmann), sich Zugang zur Gang seines Kumpels Dre (Evan Ross) zu verdienen. Der intelligente junge Farbige wiederum ist zerrissen zwischen Gang-Loyalität und einer besseren Zukunft, die ihm sein Schulabschluss eröffnen könnte. Von dieser Chance entfernt er sich immer halsbrecherischer am Steuer des Fluchtautos. Denn auf dem Rücksitz kauern ihre Geiseln, die von Kevin angeschossene Lena (Christian Serratos) und ihre verängstigte Freundin Carley (Brittany Snow).
Abrupte Schnitte versetzen den Zuschauer zurück zu den früheren Ereignissen des Tages und in die Biografien der Charaktere, die in dem Entführungsauto auf eine Katastrophe zusteuern. Es fällt schwer, das organische Anfangskapitel ihrer Geschichte mit dem rhetorischen Epilog zu vereinen. Dessen moralistische Sicht deutet sich bereits in den ersten Szenen an. Die Verknüpfung bestimmter Stereotypen mit sozialer Herkunft, ethnischer Zugehörigkeit und familiärem Hintergrund scheint der Handlungsbeginn nur zu hinterfragen, damit die folgenden Entwicklungen sie umso nachhaltiger bestätigen dürfen. Fleißig und hübsch, verkörpert Carley das Tochter-Ideal einer wohlhabenden weißen Mittelschicht. Dass sie ohne viel Klagen unter väterlicher Vernachlässigung leidet, gibt dem Ideal den nötigen dramatischen Schliff.

Ihre Freundin Lena bestätigt das Klischee der temperamentvollen Lateinamerikanerin, deren Leidenschaft ihr und anderen zum Verhängnis wird. Frust über ihre gescheiterte Beziehung führen sie und Carley zur falschen Zeit zum falschen Ort. Dort bedroht sie Kevin mit vorgehaltener Waffe, die er willkürlich auf Lena abfeuert. Im Grunde ist Kevin kein Charakter, sondern ein Katalysator, der die Handlung voranzutreiben und nebenbei Vorurteile über Milieuschädigung zu belegen hat. Kevin spielt Computerspiele, seine Mutter kümmert sich nicht, ihr Freund misshandelt ihn. Stumpfsinnig, aggressiv und roh ist Kevin das Gegenteil von Dre. Was die beiden grundverschiedenen Jungen zu Freunden macht, geht aus der Geschichte nicht hervor. Vielleicht ist es einfach die erzählerische Notwendigkeit, ihr eine Morallehre aufzuzwingen, ohne die der Film reeller und berührender wäre.

Die hervorragenden Darsteller können den grundlegenden Mangel an Glaubhaftigkeit nicht ausgleichen. Was der filmischen Momentaufnahme an dramaturgischer Überzeugungskraft fehlt, gleicht 96 Minuten zumindest teilweise durch eine impulsive Inszenierung aus. Die Kamera tritt hautnah an das Geschehen heran. Gleich den Figuren leitet sie ein ungutes Vorgefühl. Die Ahnung bevorstehenden Unheils verstärkt die Atmosphäre des Unentrinnbaren, die das Drama beherrscht. Von den anfänglichen Fragen nach der Bedeutung von Gesellschaftsumfeld und Hautfarbe entfernt die Handlung sich zunehmend und nähert sich dafür einer anderen: der Frage nach Zufall und der Möglichkeit, das eigene Schicksal selbst zu bestimmen. Am Steuer des Autos scheint Dre im praktischen Sinne die Chance zu haben, sein Schicksal zu lenken und den Ereignissen eine neue Richtung zu geben.

Tatsächlich jedoch ist Dre nicht mit der Entscheidung das Richtige zu tun konfrontiert, sondern der Unmöglichkeit das Richtige zu tun. Entweder opfert er das Leben einer Unbeteiligten, in dem er sie sterben lässt, oder das seines Freundes, indem er ihn dem Gesetz ausliefert. Das Dilemma, in das ihn der Entschlusszwang bringt, wird dabei nur unzureichend ergründet. In ihrem selbstverfassten Drehbuch ringt die Regisseurin mit den Vorurteilen, gegen die das Figurenensemble verzweifelt aufbegehrt. Für Filmautorin und Filmprotagonisten endet der Kampf in einem Desaster. Letztes ist packend genug, um Lagos´ zwiespältigen Erstling dennoch sehenswert zu machen. Mit seinen Kratzern im Lack ist das cineastische Vehikel faszinierender als ein glatter Mainstream-Renner.

96 Minuten

„96 Minuten“ beherrscht die Leinwand für die Zeit, die der Titel nennt. 93 Minuten läuft Aimée Lagos´ aussichtsreiches Debüt. Die übrige Zeit braucht es, um die Wirkung der intensiven Filmfahrt abklingen zu lassen. Das raue Jugenddrama beginnt mitten im Geschehen: in einem Auto, in einem Überfall. Mit ihm hofft der 16-jährige Kevin (Jonathan Michael Trautmann) sich Zugang zur Gang seines Kumpels Dre (Evan Ross) zu verdienen.
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