Clean, Shaven

Eine Filmkritik von Joachim Kurz

Wenn der Wahnsinn regiert

Nichts wissen wir über diesen Mann (Peter Greene), rein gar nichts. Gerade mal den Namen erfahren wir irgendwann – Peter Winter, so heißt derjenige, dem wir folgen. Und doch besteht kaum ein Zweifel daran, was mit Peter los ist. Peter leidet offensichtlich unter einer schweren Verlaufsform einer psychischen Störung, einer Schizophrenie vielleicht oder heftigen psychotischen Schüben. Er ist buchstäblich eingesperrt in einen amoklaufenden Geist, in eine revoltierende Seele, deren Filtermechanismen gegen die Anfeindungen der Umwelt längst den Dienst quittiert haben.
Gerade erst wurde Peter aus einer Heilanstalt entlassen, doch schon die ersten Bilder und Geräusche legen nahe, dass er keineswegs geheilt ist, sondern vielmehr mühsam versucht zu verstehen, wie diese feindliche, triste und chaotische Welt dort draußen funktioniert. In einem Wagen mit verklebten Spiegeln, dessen Herkunft völlig im Unklaren bleibt, macht sich Peter auf den Weg. Er ist auf der Suche nach seiner Tochter Nicole (Jennifer MacDonald), die mittlerweile von einer Frau (Molly Castelloe) adoptiert wurde. Doch zuerst begegnet er einem anderen Kind, das er, so zumindest kann man die Sequenz interpretieren, tötet und im Kofferraum seines Wagens verstaut. Vielleicht ist aber auch alles ganz anders?

Von der Schuld Peters überzeugt ist allerdings ein Detective, der eine Mordserie an Mädchen in Nicoles Alter untersucht. Schnell hat der ermittelnde Cop Jack McNally (Robert Albert) den umherirrenden Schizophrenen als mutmaßlichen Killer ausgemacht und folgt dessen Spuren, während Peter mittels einer Schere versucht, angeblich in seinem Körper platzierte Transistoren zu entfernen – was mit zu den schockierendsten Bildern dieses Filmes gehört. Schließlich landet Peter bei seiner Mutter (Megan Owen), die entsetzt und zur Hilflosigkeit verdammt mitansehen muss, wie Peter sich immer mehr in seinen Wahnvorstellungen verstrickt…

Was sich wie eine recht stringente Geschichte liest, ist in Wirklichkeit ein Puzzle aus Szenen, deren Logik sich dem Zuschauer erst mit der Zeit erschließt. Viel wichtiger als die Story ist Kerrigan die Teilhabe an Peters Weltsicht, die sich dem Zuschauer förmlich aufdrängt. Vor allem die Tonspur trägt viel dazu bei, dass man sich beim Betrachten dieses wilden irren Films so fühlt, als unternehme man einen Trip durch das verschobene (oder wenn man so will „verrückte“) Bewusstsein Peters: Pfeifen, elektronische Störgeräusche, Stimmen aus dem Radio oder aus Peters Erinnerungen, die zusammen mit den wenigen, fragmentarisch gehaltenen Dialogen, aus denen der Film besteht, einen Soundteppich ergeben, in dem sich Realität und Wahn miteinander zu einer neuen Realität verbinden.

Knapp 60.000 Dollar hat Lodge Kerrigans Regiedebüt Clean, Shaven gekostet – eine geradezu lächerliche Summe. Und doch dauerte die Arbeit an dem Film zwei Jahre, da sie immer wieder unterbrochen werden mussten, um das nötige Geld zu Weiterarbeit zu besorgen. In einer Zeit, als das junge amerikanische Independent-Kino längst die Durstrecke der 1980er hinter sich gelassen hatte und in den 1990er einen bemerkenswerten Aufstieg feiern konnte, nahm sich Kerrgians Clean, Shaven nicht allein wegen seines Budgets, sondern vor allem wegen seines radikal subjektiven und experimentellen Ansatzes wie ein Solitär aus, dessen Ruf als Ausnahmewerk von verstörender Intensität zumindest in Expertenkreisen bis heute anhält.

Zu einer Legende wurde der Film nicht nur wegen seiner Radikalität, sondern auch, weil Clean, Shaven nahezu aus dem Nichts kommend sowohl in Sundance als auch in Cannes zu sehen war und dort jeweils für Furore und Gerüchte sorgte, die von in Ohnmacht fallenden Zuschauern und sonstigen Vorkommnisse wissen wollten. Im Zuge des Hypes um den Film fand der Indie schließlich sogar den Weg in die Kinos, wo das sperrige Werk aber sang- und klanglos unterging und der Film selbst im Lauf der Jahre weitgehend in Vergessenheit geriet.

Dass Clean, Shaven, den man wohl am ehesten mit Darren Aronofskys Pi (1998), mit David Lynchs Eraserhead (1977) und John McNaughtons Henry: Portrait of a Serial Killer (1986) vergleichen kann, nun in Deutschland auf DVD erschienen ist, ist dem verdienstvollen Label Bildstörung zu verdanken, das mit seiner hervorragend kuratierten Reihe „Drop Out“ mittlerweile Maßstäbe gesetzt hat in punkto Geschmackssicherheit und Trüffelschwein-Qualitäten. Man kann wirklich jeden Film der inzwischen zwölf Titel umfassenden Reihe blind kaufen und wird in eine Welt jenseits von Mainstream-Mist und gefälligem Feelgood-Arthouse-Kino entführt – Filme, die sperrig sind, widerborstig, innovativ und subversiv. Und genau das vermisst man heutzutage im Kino schmerzlich.

Clean, Shaven

Nichts wissen wir über diesen Mann (Peter Greene), rein gar nichts. Gerade mal den Namen erfahren wir irgendwann – Peter Winter, so heißt derjenige, dem wir folgen. Und doch besteht kaum ein Zweifel daran, was mit Peter los ist. Peter leidet offensichtlich unter einer schweren Verlaufsform einer psychischen Störung, einer Schizophrenie vielleicht oder heftigen psychotischen Schüben.
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