Der Schneider von Ulm

Eine Filmkritik von Marie Anderson

Über die Freiheit der Lüfte

Die Sehnsucht, dass sich nicht nur der Geist, sondern auch der Körper der menschlichen Kreatur vom Erdboden löse und in die Lüfte erhebe, vagabundiert womöglich schon seit Urzeiten in der Vorstellung der Menschheit. Eine historische Figur mit einer gewaltigen Passion für das Fliegen war Albrecht Ludwig Berblinger (1770-1829), besser als der „Schneider von Ulm“ bekannt, der sein Leben neben anderen nützlichen Erfindungen wie Beinprothesen der Konstruktion von Flugmaschinen widmete. Seine legendäre, gescheiterte Flugdemonstration vor Volk und Adel im Mai 1811 trug ihm lediglich Spott und Hohn ein, doch mit seinem Film Der Schneider von Ulm aus dem Jahre 1978 gelingt es dem deutschen Regisseur Edgar Reitz auf ebenso unterhaltsame wie ansprechende Weise, ein differenziertes Licht auf diesen couragierten Flugpionier zu werfen, dessen präzise Entwürfe retrospektiv als hochgradig funktionell eingestuft werden. Der Film erscheint bei Arthaus in einer 2008 restaurierten Fassung, die unter den Extras ein Gespräch zwischen dem Regisseur Edgar Reitz und dem Filmforscher Thomas Koebner präsentiert, das interessante Details über die Entstehung des historischen Dramas beinhaltet.
Als der Ulmer Schneider Albrecht Ludwig Berblinger (Tilo Prückner) nach seiner Gesellenzeit in Wien in seine Heimatstadt zurückkehrt, begegnet er bei einer spektakulären „Landung“ eines Fesselballons dem flugbegeisterten Jakob Degen (Harald Kuhlmann), mit dem ihn die glühende Leidenschaft für das Erfinden von Flugmaschinen verbindet, die er mit verzehrendem Eifer erneut aufnimmt. Innerhalb der politischen Unruhen der Garnisonsstadt Ulm jener Jahre freundet sich Berblinger mit dem Revolutionär Kaspar Fesslen (Vadim Glowna) an, der einen Aufstand zum Widerstand gegen die militärischen Pläne der Obrigkeit anzettelt, und gemeinsam mit einer Gruppe Gleichgesinnter fällt auch Berblinger in Ungnade und Gefangenschaft. Seine Familie und auch seine Frau Anna (Hannelore Elsner) wenden sich daraufhin von ihm ab, und nach seiner Freilassung widmet sich der Schneider zurückgezogen und unablässig dem Bau eines Fliegers, mit dem er endlich in die Lüfte abzuheben hofft, und tatsächlich gelingt ihm eine tragfähige Konstruktion. Trotz ungünstiger Umstände lässt er sich schließlich darauf ein, seine Flugkünste vor einem großen Publikum zu demonstrieren, unter welchem sich auch Aristokraten von hohem Rang befinden. Auch sein Seelenverwandter Jakob Degen erscheint zum großen Tag in Ulm, doch der Standort und die Winde erweisen sich für Berblinger als allzu widrig …

Mit einem ganz hervorragend agierenden Ensemble – zuvorderst Tilo Prückner als Schneider von Ulm und Vadim Glowna als revolutionärer Visionär – hat der Filmschaffende und -lehrende Edgar Reitz, der 2006 für sein umfassendes Engagement um den deutschen Film mit dem Großen Verdienstkreuz der Bundesrepublik Deutschland geehrt wurde, diesen historischen Stoff mit technischer wie dramaturgischer Raffinesse inszeniert. Die ausdrucksstarken, bewegten Bilder werden von der atmosphärisch mitreißenden Filmmusik von Nikos Mamangakis flankiert, und es ist vor allem die enge Verknüpfung von technischem und politisch-philosophischem Pioniergeist, die Der Schneider von Ulm zu einem poetischen, anspruchsvollen Werk werden lässt. Wenn Vadim Glowna als Jakobiner Kaspar Fesslen seinen Kameraden während der Gefangenschaft erzählt, wie er einst in Paris einen Fesselballon über den Champs-Élysées aufsteigen sah, in dem der euphorische nackte Insasse die Erklärung der Menschenrechte für alle Völker des Weltalls verlas, dann offenbart sich der zauberhafte Zusammenhang zwischen den freiheitlichen Gedanken und dem Abheben des Menschen in die Lüfte, der in diesem Film auf wunderschöne Weise zum Tragen kommt.

Der Schneider von Ulm

Die Sehnsucht, dass sich nicht nur der Geist, sondern auch der Körper der menschlichen Kreatur vom Erdboden löse und in die Lüfte erhebe, vagabundiert womöglich schon seit Urzeiten in der Vorstellung der Menschheit. Eine historische Figur mit einer gewaltigen Passion für das Fliegen war Albrecht Ludwig Berblinger (1770-1829), besser als der „Schneider von Ulm“ bekannt, der sein Leben neben anderen nützlichen Erfindungen wie Beinprothesen der Konstruktion von Flugmaschinen widmete.
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