Lärm und Wut (1987)

Eine Filmkritik von Joachim Kurz

Im Käfig der Vorstädte

Manchmal wirkt er selbst wie ein kleines Vögelchen: Am Anfang sehen wir den 13 Jahre alte Bruno (Vincent Gasperitsch), wie er in der unwirtlichen Siedlung von Bridonville ankommt, mit einem Vogelkäfig in der einen und einem schäbigen Köfferchen in der anderen Hand bahnt er sich seinen Weg durch die trostlose Betonlandschaft mit ihren verwinkelten Treppen und dem hässlichen Beton, die beinahe selbst schon wie ein Käfig aussieht. In dem Wohnblock, in den Bruno bei seiner ständig abwesenden Mutter einzieht, trifft er auf Jean-Roger (Francois Négret), der gerade damit beschäftigt ist, die Fußmatten der Nachbarschaft anzuzünden. Wie der Neuankömmling, so stammt auch der Zündler aus zerrütteten Verhältnissen. Während sich Brunos Familie vor allem durch Abwesenheit auszeichnet, sind Jean-Rogers Verwandte erschreckend präsent. Dessen schießwütiger Vater (Bruno Cremer) tyrannisiert die Familie und erträgt es nicht, dass Jean-Rogers großer Bruder sein Glück bei einem Mädchen aus gutem Hause gefunden hat. Das Leben, so die Devise des grimmigen Patriarchen, hält für Leute wie sie nichts Gutes bereit. Und am Ende wartet sowieso nur das große schwarze Loch. Eine Lebenshaltung, die längst auch auf Jean-Roger abgefärbt hat.

Obowhl der stille und beinahe verträumte Bruno wenig mit Jean-Roger gemeinsam hat, freunden sich die beiden Jungs miteinander an – auch deshalb, weil Bruno nach dem Tod seiner Großmutter und Erfahrungen in diversen Sozialeinrichtungen sonst niemanden hat, der sich um ihn kümmern würde. Die Versuche, den sensiblen Jungen zu ermutigen und zu fördern, die seine Lehrerin unternimmt, werden von dem missgünstigen Jean-Roger systematisch hintertrieben. Und so gerät Bruno immer mehr in den Bannkreis seines Freundes, dessen Einfluss sich als verhängnisvoll erweisen wird. Die Abwärtsspirale, in die er dadurch gerät, kennt keinen Ausweg und entlädt sich am Ende in einer Nacht, die alles verändern wird…

Spätestens seit Mathieu Kassovitz‘ Film Hass / La haine (1995) und den immer wieder aufflammenden Unruhen unter Jugendlichen in den Banlieus der französischen Hauptstadt ist das Phänomen der Jugendgewalt in Frankreich (natürlich auch in anderen Ländern) nichts mehr, vor dem man länger die Augen verschließen kann. Zu Zeiten, als Jean-Claude Brisseaus Film Lärm und Wut auf Festivals für Skandale sorgte, war das noch anders. Brisseau, der das Elend in den Vorstädten als Lehrer an einer Realschule selbst hautnah miterlebt hatte, war der erste Filmemacher überhaupt, der seinen Finger auf die Wunde der „grande nation“ legte und damit einen veritablen Skandal beim Festival von Cannes im Jahre 1988 verursachte. Fast zehn Jahre lang hatte Brisseau das Drehbuch von Produzent zu Produzent geschickt und war unzählige Male abgelehnt worden, weil man den Stoff als zu schwierig, zu niederschmetternd und zu unrealistisch empfand – weil nicht sein kann, das nicht sein darf. Für den Wettbewerb an der Croisette ignoriert und stattdessen in der Reihe Perspectives aufgeführt und zudem in Frankreich nur für Zuschauer über 18 Jahren zugelassen, fand der Film aber in Reihen der Filmkritik und durch Filmemacher wie Barbet Schroeder begeisterte Zustimmung, was aber nicht verhindern konnte, dass Lärm und Wut zunehmend in Vergessenheit geriet.

Dabei hat der Film mit seiner unverwechselbaren Mischung aus krassem Realismus und gelegentlich eingestreuten fantastisch-stilisierten Sequenzen voller Todessehnsucht und schwarzer Erotik bis heute nichts an seiner düsteren Strahlkraft sowie kompromisslosen Härte und Aktualität verloren und ist geradezu dafür prädestiniert, wiederentdeckt zu werden. Ohne jede moralische Wertung zeigt Brisseau das ganze Ausmaß des Elends und der Verwahrlosung und schafft es dennoch, selbst Jean-Rogers Vater gegenüber noch jenes Maß an Respekt entgegenzubringen, dass den Menschen in seinem Film längst abhanden gekommen ist.

Das DVD-Label Bildstörung, das sich in seiner Reihe Drop-out vergessenen Schätzen des europäischen Autorenfilms widmet, hat Lärm und Wut nun in einer überaus gelungenen Neuedition für den deutschen Markt herausgebracht. Wie üblich ist die Bild- und Tonqualität des Films trotz seines Alters herausragend, die DVD wurde durch sinnvolle Features (Kommentar von Jean-Claude Brisseau über die Anfangsszenen des Films, Making-Of-Dokumentation von Luc Ponette und ein Interview mit dem Regisseur), ergänzt und mit einem derart ausführlichen Booklet versehen, wie man es sich von anderen Editionen in gleicher Weise wünschen würde. Einziger kleiner Wermutstropfen: Bei den Untertiteln des Interviews mit Jean-Claude Brisseau hat sich der Fehlerteufel eingeschlichen, so dass statt der korrekten Untertitel auf die Übersetzung der Making-Of-Dokumentation zugegriffen wird. Das korrekt untertitelte Interview ist aber mittlerweile auf der Homepage von Bildstörung zu sehen und kann dort auch heruntergeladen werden. Die Freude über eine echte Entdeckung, die auch heute noch nichts von ihrem bizarren Schrecken verloren hat, kann dieser kleine Fehler aber sowieso nicht trüben.

Der Titel des Films ist übrigens abgeleitet von William Faulkners Satz „Das Leben ist eine Geschichte voller Lärm und Wut – erzählt von einem Idioten – die nichts bedeutet.“ Treffender kann man die bedrückend nihilistische Botschaft dieses verzweifelten Films kaum auf den Punkt bringen.
 

Lärm und Wut (1987)

Manchmal wirkt er selbst wie ein kleines Vögelchen: Am Anfang sehen wir den 13 Jahre alte Bruno (Vincent Gasperitsch), wie er in der unwirtlichen Siedlung von Bridonville ankommt, mit einem Vogelkäfig in der einen und einem schäbigen Köfferchen in der anderen Hand bahnt er sich seinen Weg durch die trostlose Betonlandschaft mit ihren verwinkelten Treppen und dem hässlichen Beton, die beinahe selbst schon wie ein Käfig aussieht.

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Meinungen

Martin ZOpick · 24.03.2021

Ein schockierendes Sozialdrama aus den Banlieues Frankreichs von Jean-Claude Brisseau. Ein realistischer Plot zeigt die ganze Komplexität der Probleme, wobei das Kaleidoskop von individuellem Erfolg durch Lerneffekte bis hin zum totalen Scheitern eines Lebensentwurfs reicht. Das wird unterstrichen durch brutale physische Gewalt auf der einen Seite: d.h. Mord und Prügel; auf der anderen Seite wird die Kraft des Intellekts betont, die in Traumvisionen dargestellt wird.
Im Mittelpunkt steht der 13-jährige Bruno (Vincent Gasperitsch), der fast allein aufwächst. Ein sensibler, intelligenter Bub, der versucht, seinen Lebensweg in einem gefährlichen Umfeld zu finden. Er bewundert J.R. (Francois Négret), einen kriminellen Taugenichts, der nur Unsinn im Kopf hat und sich mehr schlecht als recht durchs Leben kämpft. Sein Vater Marcel (Bruno Cremer) demonstriert, wie man erfolgreich auf die schiefe Bahn geraten kann. Einer seiner Söhne arbeitet, hat eine Freundin und passt partout nicht ins Familienschema. Die Lehrerin (Fabienne Babe) fördert Brunos schlummernde Talente und hat prompt eine Klage wegen Missbrauchs am Hals, wegen eines Briefes, den J.R. an den Schulleiter geschickt hatte.
Es gibt Vergewaltigungen vor Publikum als Mannesbeweis unterschiedlicher Jugendgangs, eine Revolution im Klassenzimmer und dann die wunderschönen poetischen Fluchten, wenn sich Bruno ein Mädchen im Brautschleier erträumt. Es könnte auch seine gute Fee sein.
Die Lage spitzt sich zu im Freien und in Marcels Wohnung. Vatermord und Selbstmord stehen für die grausame Realität. Ein Hoffnungsschimmer bleibt: der kriminelle J.R. lernt im Jugendknast Umzudenken. Der kleine Bruno kriegt nicht die Kurve.
Der Plot geht unter die Haut, weil er die Zuschauer von zwei Seiten bearbeitet: der romantische Traum bietet einen Ausweg aus der Hoffnungslosigkeit. Es ist eine Option, aber nicht für jeden.

Pupanz · 15.03.2021

Eiskalte 80er in Pariser Trostlosigkeit, brutal und poetisch zugleich, beeindruckendes Spiel in einer verlassenswerten Welt..