Der weiße Scheich

Eine Filmkritik von Marie Anderson

Die Träume sind unser wahres Leben

Der Titel dieses frühen Films von Federico Fellini aus dem Jahre 1952, bei dem der italienische Filmemacher das erste Mal komplett eigenständig Regie führte, ruft spontan Imaginationen seichter Blumigkeit hervor, und in der Tat ist Kitsch ein ganz zentrales Thema dieser köstlichen italienischen Satire. Der weiße Scheich ist ein derbes Stück über die Macht der Illusion und Schwärmerei, das sich nicht scheut, zarte romantische Empfindungen auf ordinäre Realitäten prallen zu lassen. Möglicherweise liegt darin der wesentliche Grund dafür, dass der Film, der damals in Deutschland unter dem Titel Die bittere Liebe erschien, seinerzeit an den Kinokassen einen massiven Misserfolg darstellte und auch bei den Kritikern kaum besseren Anklang fand.
Gerade frisch vermählt, reisen der penible Kleinstadtpolitiker Ivan Cavalli (Leopoldo Trieste) und seine verträumte Braut Wanda (Brunella Bovo) aus der Provinz mit dem Zug nach Rom, um dort ihre Flitterwochen zu verbringen. Das Programm für den kurzen Aufenthalt in der turbulenten Metropole hat Ivan bereits minutiös ausgearbeitet: Zunächst wird er Wanda im Hotel seiner zahlreichen Verwandtschaft vorstellen, mit welcher das Paar dann die klassischen Sehenswürdigkeiten abklappern soll. Doch den unübertrefflichen Höhepunkt soll eine Audienz beim Papst höchstpersönlich bilden, die von seinem einflussreichen Onkel organisiert wurde – ein Privileg, auf das Ivan besonderen Wert legt. Im Anschluss daran hat er dann endlich auch ein Stündchen für die intime Zweisamkeit mit seiner Frau anberaumt.

Während Ivan akribisch seine Pläne referiert, weilen Wandas Gedanken bereits in ganz anderen Gefilden. Die romantisch veranlagte junge Schönheit will den Aufenthalt in Rom dazu nutzen, heimlich den „weißen Scheich“ (Alberto Sordi) aufzusuchen, den Hauptdarsteller eines populären Fotoromans, den sie bereits seit langem unter dem Decknamen „kleine Anbeterin“ verehrt. Unter dem Vorwand, vor dem Treffen mit Ivans Familie ein Bad nehmen zu wollen, schleicht sich Wanda in dieser konspirativen Mission aus dem Hotel, und es wird eine ganze Weile und einige kleine Katastrophen lang dauern, bis sich das Flitterwochenpaar schließlich in der großen Stadt wiederbegegnet – reichlich ernüchtert und angeschlagen, aber immerhin gemeinsam auf dem Weg zur Papst-Audienz.

„Die Träume sind unser wahres Leben“, bemerkt eine Figur dieser durchaus auch parabelhaften Geschichte, die ursprünglich auf einer Idee des italienischen Künstlers und Regisseurs Michelangelo Antonioni beruht, die Federico Fellini in Kooperation mit Tullio Pinelli und Ennio Flaiano zum Drehbuch für Der weiße Scheich verarbeitet und noch während der Dreharbeiten reichlich modifiziert hat. Auch wenn dieser Ausspruch im Verlauf der Handlung von der desillusionierten Wanda noch wütend verworfen wird, stellt er doch mit seiner letztlich bitter-zynischen Ambivalenz eine ernsthafte Kernaussage dieser turbulenten Satire dar, die von der Circus-Stimmung verbreitenden Musik von Nino Rota angeheizt wird.

Mit Der weiße Scheich begann auch die äußerst fruchtbare Zusammenarbeit von Federico Fellini und dem italienischen Komponisten Nino Rota (Der Pate / The Godfather, 1972, Tod auf dem Nil / Death on the Nile, 1978), die später mit grandiosen Werken der Filmgeschichte wie La Strada und La dolce vita begnadete Glanzlichter setzte. Die Bedeutsamkeit der Musik in Fellinis Werken mit ihren kuriosen, ungezähmten Figuren wird bereits in diesem frühen Film deutlich, der schon mit Giulietta Masina als Hure Cabiria in einer kleinen Nebenrolle einen prägnanten Charakter einführt, der fünf Jahre später in Die Nächte der Cabiria / Le notti di Cabiria zur tapfer-melancholischen Hauptdarstellerin avancieren wird.

Der komödiantisch verhüllte Zynismus, den Der weiße Scheich kultiviert, wendet sich zwar massiv gegen die Figuren der Geschichte – zuvorderst gegen die naiv-schwärmerische Wanda, die ihre gerade geschlossene Ehe riskiert, um einer romantischen Illusion zu folgen –, attackiert aber im Grunde die vermeintliche Sicherheit bürgerlicher Moralvorstellungen sowie die Ausprägungen seichter Unterhaltungsstrategien, deren krude Magie eine Macht besitzt, die sich auf dem Vehikel von scheinbar harmlosen Träumereien zerstörerisch in die so genannte Realität schleicht. Aber so ernsthaft kommt diese hintergründige Satire dann doch nicht daher, und es ist keinesfalls auszuschließen, dass es gerade die Kraft der geheimen Imaginationen ist, die der menschlichen Kreatur nicht selten ermöglicht, das „wahre Leben“ zu ertragen.

Der weiße Scheich

Der Titel dieses frühen Films von Federico Fellini aus dem Jahre 1952, bei dem der italienische Filmemacher das erste Mal komplett eigenständig Regie führte, ruft spontan Imaginationen seichter Blumigkeit hervor, und in der Tat ist Kitsch ein ganz zentrales Thema dieser köstlichen italienischen Satire.
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