Life Is Sweet

Eine Filmkritik von Marie Anderson

Aus dem Leben einer Londoner Arbeiterfamilie

Dieser Mann scheut sich nicht, einen ebenso präzisen wie nicht selten unbehaglichen Blick auf die marginalisierten kleinen Helden des Alltags und die sozialen Underdogs der Gesellschaft zu werfen: Der britische Filmemacher Mike Leigh, der es meisterhaft versteht, eine filigrane Balance zwischen Komik, Kritik und Katastrophe in seinen bewegenden Geschichten zu installieren. Nun erscheinen mit der Edition Mike Leigh – Arthaus Close-Up drei vielfach ausgezeichnete Filme des radikalen Regisseurs aus den 1990er Jahren, die allesamt den eigenwilligen Stil des Briten und seines Kameramannes Richard „Dick“ Pope ganz hervorragend repräsentieren und jeder für sich betrachtet ein filmisches Kleinod darstellen: Lügen und Geheimnisse / Secrets & Lies, Nackt / Naked und Life Is Sweet, der nunmehr erstmals in Deutschland auf DVD erscheint. Als ansprechende Beigabe enthält die Edition die Kurzfilme The Short & Curlies (1987) von Mike Leigh sowie Hello, Hello, Hello (1995) des Schauspielers David Thewlis, der dafür eine BAFTA Award Nominierung erhielt.
Sie ist eine fröhliche Frau in den späten Dreißigern, die gern scherzt und lacht und mit kleinen Jobs hier und da zum nicht gerade üppigen Familieneinkommen beiträgt: Wendy (Alison Steadman) lebt mit ihrem Mann Andy (Jim Broadbent) sowie ihren Töchtern Natalie (Claire Skinner) und Nicola (Jane Horrocks) in einem bescheidenen Häuschen in einer ruhigen Wohngegend Londons. Andy, den immer wieder abgefahrene neue Ideen und Projekte im Hinblick auf eine Verbesserung ihrer Lebenssituation umtreiben, geht seiner Arbeit in einer Lebensmittelfabrik absolut ungern nach, was er gern mit offensivem Sarkasmus kompensiert. Natalie, die unauffällige der beiden Zwillinge, geht mit Anfang zwanzig in ihrem Job als Klempnerin auf, während die aggressiv auftretende Nicola als Sorgenkind der Familie ihre Zeit mit den schrägen Schrullen ihrer exzessiven Persönlichkeit verbringt. Hin und wieder tauchen Andys Freunde Patsy (Stephen Rea), der ihm nur allzu gern kostspielige Kuriositäten andreht, und Aubrey (Timothy Spall) auf, der gerade im Begriff ist, ein französisches Restaurant zu eröffnen. Nicolas geheimer Liebhaber (David Thewlis) ist nur dann zu Besuch, wenn der Rest der Familie außer Haus ist, um seiner widerborstigen Geliebte zu Diensten zu sein, die sich von ihm bevorzugt ans Bett gebunden die mit Schokoladencreme bedeckten Brüste ablecken lässt.

Zunächst humoristisch und leichtgängig präsentiert Mike Leigh seinem Publikum die unspektakuläre Momentaufnahme einer Arbeiterfamilie in ihrem harmlosen Universum des ganz alltäglichen Wahnsinns, den sie augenscheinlich gelassen meistert. Doch die anfangs nahezu beiläufigen Zeichen, dass sich hinter dieser mit reichlich Selbstironie errichteten Fassade eine stille kleine Tragödie ereignet, häufen sich bald. Es ist die offensichtlich an Bulimie leidende Nicola, deren unruhige Persönlichkeit das Familienleben belastet. Doch Life Is Sweet nähert sich diesem düsteren Hintergrund ganz allmählich auf unaufdringliche Art an und stellt letztlich eine scheinbar zufällige, vorbeischauende Geschichte über ein paar Tage im Dasein dieser Familie dar, die im Verlauf der Dramaturgie eine beklemmende Intensität gewinnt, um am Ende dezent die positive Tendenz potentieller Veränderungen anzudeuten. Darin liegt die ungeheuer sensibel konstruierte Qualität dieses Films mit ausgesprochen respektabler Sympathie für seine anrührenden, tragikomischen und letztlich unbeugsamen Figuren, die von einem grandios agierenden Ensemble verkörpert werden: Es entsteht der kuriose, geschickt erzeugte Eindruck, als seien die Zuschauer und auch die Filmemacher zu Gast in diesem Ausschnitt aus dem Familienkosmos, der zuvor und anschließend auch ohne Publikum existiert. Das ist bewegende Filmkunst auf höchstem Niveau, die neben anderen Auszeichnungen vom London Critics Circle mit dem Titel „Film of the Year“ geehrt wurde.

Life Is Sweet

Dieser Mann scheut sich nicht, einen ebenso präzisen wie nicht selten unbehaglichen Blick auf die marginalisierten kleinen Helden des Alltags und die sozialen Underdogs der Gesellschaft zu werfen: Der britische Filmemacher Mike Leigh, der es meisterhaft versteht, eine filigrane Balance zwischen Komik, Kritik und Katastrophe in seinen bewegenden Geschichten zu installieren.
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