Heartless

Eine Filmkritik von Joachim Kurz

Zwischen Vision, Wahn und Wirklichkeit

Es gibt Filme, die man nie vergisst. Philip Ridleys klaustrophisch-verschrobenes Kindheitsdrama Schrei in der Stille / Reflecting Skin (1990), der auf etlichen Festivals mit Preisen förmlich überhäuft wurde, war ohne Zweifel eines jener Werke, das in diese Kategorie fällt. Danach wurde es fünf Jahre lang still um das britische Multitalent, das nebenbei (bzw. eher hauptberuflich) als gefeierter bildender Künstler, Dramatiker und Autor von Kinderbüchern in Erscheinung getreten ist. 1995 trat Ridley dann erneut als Regisseur in Erscheinung, sein Film Die Passion von Darkly Noon / The Passion of Darkly Noon erreichte nicht mehr das hohe Maß an Aufmerksamkeit wie Ridleys Erstling, galt aber wie dieser als deutlich an David Lynch angelehnt. Seitdem sind 15 Jahre ohne cineastisches Lebenszeichen vergangen, in der Filmbranche ist das eine halbe Ewigkeit. Umso erfreulicher, dass es nun mit Heartless ein neues Werk des Bildermagiers zu bewundern gibt – wenngleich die Freude ein klein wenig dadurch geschmälert wird, dass Ridleys dritter Spielfilm „nur“ einen DVD-Release erhält. Der hat es allerdings in sich – und das liegt neben den hypnotischen Bildern Ridleys vor allem an einem formidablen Hauptdarsteller, der ganz nebenbei noch einige Songs zum Soundtrack des Films beigesteuert hat.
Jamie (Jim Sturgess) führt ein zurückgezogenes Leben, was vor allem an dem herzförmigen Muttermal liegt, das sein Gesicht seit seiner Kindheit verunstaltet. Als Fotograf durchstreift er mit Vorliebe nachts die etwas dunkleren Ecken der beängstigend gewalttätigen britischen Hauptstadt und ist immer auf der Suche nach ausgefallenen Bildern. Bei einer seiner Exkursionen stößt er auf einer Gruppe von Wesen, die nur auf den ersten Blick wie Menschen erscheinen, ihre Gesichter erinnern hingegen in fataler Weise an die Fratzen von Monstern. Angeekelt von der Erscheinung flieht Jamie und versucht den Vorfall so schnell wie möglich zu vergessen. So leicht lassen sich die Dämonen, die von der Presse als maskierte Jugendgang unterschätzt werden, aber nicht abschütteln. Bei einem Angriff stirbt Jamies Mutter Marion (Ruth Sheen), so dass der junge Mann nach dem frühen Tod seines Vaters (Timothy Spall) nun ganz ohne Bezugsperson dasteht. An diesem Unglück und der ungeheuren Gewaltwelle, die über London hereinbricht, scheint Jamie zu verzweifeln – bis ihm von dem geheimnisvoll-sinistren Papa B (Joseph Mawle) ein verlockendes Angebot gemacht wird: Es sei, so der diabolische Mann, der in einem Hochhaus residiert, für ihn ein Leichtes, Jamie von dem entstellenden Muttermal zu befreien. Die Gegenleistung, die Papa B aber verlangt, stellt sich mit der Zeit als gewaltige Bürde heraus. Denn ein Pakt mit dem Teufel hat immer einen immensen Preis. Und das Chaos, zu dem Jamie seinen Beitrag leisten soll, besteht aus weitaus mehr als den zunächst geforderten blasphemischen Schmierereien.

Was auf den ersten Blick wie ein konventioneller Horrorstreifen erscheint, erweist sich bei genauerer (und mehrmaliger) Betrachtung als raffiniertes Spiel zwischen Vision, Wahn und Wirklichkeit und als manchmal etwas krude Mischung aus blutiger Brutalität mit deutlichen Anklängen an die soziale Wirklichkeit auf der Insel und an märchenhaften Kitsch grenzendem Pathos. Was Ridley nach wie vor auszeichnet, ist seine Vorliebe für Außenseiter und Drop-outs der Gesellschaft, denen seine ganze Sympathie gilt. Geschickt jongliert der Regisseur mit einer Vielzahl von Motiven, angefangen von der literarischen Vorlage des Doktor Faustus über das brandaktuelle Thema der zunehmenden Gang- und Jugendgewalt bis hin zur schwierigen Identitätsfindung des Helden und selbst eine (reichlich knapp skizzierte) Liebesgeschichte mit der hinreißenden Clémence Poésy (Brügge sehen … und sterben?) darf nicht fehlen. Was bei anderen Regisseuren für mehrere Filme gereicht hätte, wirkt bei Heartless lange Zeit überfrachtet, macht aber im letzten Drittel des mit einigen Überraschungen gespickten Endes (das hier nicht verraten werden soll) durchaus Sinn.

Fazit: Mit seinem neuen Film Heartless erreicht Philip Ridley zwar nicht die Extraklasse seines Erstlings Schrei in der Stille; dennoch zeigt der Film, welch außergewöhnliches Talent sich in den letzten Jahren viel zu rar gemacht hat. Doch wer weiß – vielleicht dauert es ja bis zum nächsten Film von Ridley nicht mehr knapp 15 Jahre wie im vorliegenden Fall. Eine Bereicherung des britischen Kinos ist der Filmemacher auf jeden Fall.

Heartless

Es gibt Filme, die man nie vergisst. Philip Ridleys klaustrophisch-verschrobenes Kindheitsdrama „Schrei in der Stille“ / „Reflecting Skin“ (1990), der auf etlichen Festivals mit Preisen förmlich überhäuft wurde, war ohne Zweifel eines jener Werke, das in diese Kategorie fällt.
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