Ladybird Ladybird

Eine Filmkritik von Joachim Kurz

Eine Geschichte aus dem (wahren) Leben

Es gibt Menschen, die ziehen die Schwierigkeiten geradezu magisch an. Maggie (Crissy Rock) ist so jemand. Und sie selbst weiß das am allerbesten. Als sie in einer Karaoke-Bar von Jorge (Vladimir Vega) angesprochen und zu einem Drink eingeladen wird, zückt sie ein Foto ihrer vier Kinder, und erklärt dem Verehrer, dass jedes von einem anderen Vater abstammt. Schnell ahnt man, dass es damit noch nicht vorbei ist mit der Pechsträhne. Denn trotz allem trägt sie, wie schon das Lied, das sie singt, deutlich macht, zu viel Liebe in sich, will sich darin verlieren: „Ich zieh‘ das Unglück an und geh‘ mit ihm ins Bett.“
Als sie sich einige Tage später wieder sehen, erzählt Maggie Jorge ihre Geschichte: Aufgewachsen in einer Familie voller Gewalt, setzt sich das in der Kindheit Erlebte im Erwachsenenalter weiter fort. Immer wieder wird sie zum Opfer häuslicher Gewalt. Und dennoch lässt sie sich nicht unterkriegen. Doch das Schicksal scheint sich gegen sie und Jorge verschworen zu haben: Als sie von einem harmlosen Pubbesuch nachhause zurück kommt, hat es in ihrer Wohnung gebrandt, ihr Sohn Sean wurde dabei schwer verletzt, so dass sich die Behörden einschalten und der „Rabenmutter“ das Sorgerecht für ihre Kinder entziehen. Dann wird sie von Jorge schwanger und auch diesem Baby droht das gleiche Schicksal wie seinen Halbgeschwistern. Zudem wird Jorge als Asylbewerber bei einer illegalen Arbeit erwischt, so dass ihm nun die Abschiebung droht. Haben die beiden, haben Maggie und Jorge, diese beiden gesellschaftlichen Außenseiter, überhaupt eine Chance?

Der eigentliche Star dieses Films ist (natürlich) Crissy Rock. Die Hausfrau aus Liverpool und Mutter von sechs Kindern kam aus dem Nichts und hatte außer einigen Auftritten in Pubs keinerlei schauspielerische Erfahrung, als sie von Ken Loach für diese Rolle – im doppelten Sinne die Rolle ihres Lebens — engagiert wurde. Der Lohn für den Mut von Loach und seiner Darstellerin: Als absoluter Nobody in der Filmwelt erhielt Crissy Rock im Jahre 1994 den Silbernen Bären als Beste Darstellerin. Von der Hausfrau zum Filmstar – ein Märchen, wie man es liebt.

Der Film geht weniger märchenhaft — zumindest im positiven Sinne – mit seinen Figuren um. Gleich zu Beginn des Films macht der Regisseur deutlich, dass es sich hierbei um eine Story handelt, die sich so oder so ähnlich im wahren Leben ereignet hat. Und dass der Frau, nach deren Vorbild die Rolle Maggies gestaltet wurde, weniger Glück gehabt hat als Crissy Rock. Weil das Leben im England Margaret Thatchers nicht gerecht sein kann, da hier zu Ungunsten der Unterschicht schmerzhafte Einschnitte in die sozialen Sicherungssysteme vorgenommen wurden, die die Ungleichheiten und Ungerechtigkeiten weiter verschärft haben. Um dies zu verdeutlichen, schreckt Loach auch vor bisweilen übertriebenen Dramatisierungen nicht zurück, schließlich muss die Wahrheit manchmal verdichtet, zugespitzt und bis ins Äußerste getrieben werden, um die Menschen wachzurütteln.

Mit dieser Prämisse, Loachs unaufdringlicher Inszenierung, seiner konsequenten Verweigerung eines allzu schlichten Happy Ends und Crissy Rocks eindringlicher Darstellung der Maggie gelingt dem Film eine beinahe dokumentarische Qualität, die viel erzählt vom Leben der einfachen Leute in prekären Verhältnissen. Trotz aller Sympathien, an denen der Film niemals einen Zweifel lässt – einfache Schuldzuweisungen sucht man hier vergebens, im Rahmen ihrer jeweiligen Möglichkeiten bleiben den Beteiligten kaum Möglichkeiten, sich anders zu verhalten, als sie dies tun. Sie sind Teil eines Systems und funktionieren in der Weise, wie sie das vorgegeben bekommen. So viel Realismus gab es in den Neunzigern eigentlich nur im britischen Kino, zu dessen herausragenden Vertretern Ken Loach zählt. Ein Blick auf die heutige Lage in England und anderswo zeigt, dass sich seitdem die Lage kaum gebessert hat. Neben der Brutalität dieses Films und seiner deprimierend realistischen Weltsicht ist dies das eigentlich Erschreckende an Ladybird Ladybird.

Ladybird Ladybird

Es gibt Menschen, die ziehen die Schwierigkeiten geradezu magisch an. Maggie (Crissy Rock) ist so jemand. Und sie selbst weiß das am allerbesten. Als sie in einer Karaoke-Bar von Jorge (Vladimir Vega) angesprochen und zu einem Drink eingeladen wird, zückt sie ein Foto ihrer vier Kinder, und erklärt dem Verehrer, dass jedes von einem anderen Vater abstammt.
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