Lacombe Lucien

Eine Filmkritik von Marie Anderson

Die grandiose Inszenierung eines heiklen Themas

Dieser Spielfilm von Louis Malle aus dem Jahre 1974 gehört zu den umstrittensten Werken des französischen Regiemeisters, befasst er sich doch mit dem diffizilen Thema der nationalsozialistischen Besetzung Frankreichs im Zweiten Weltkrieg. Dabei inszeniert der kritische, vielschichtige Filmemacher, der diese Zeit als Kind miterlebte, keineswegs eine feurige Hymne auf die Résistance, sondern lenkt den Fokus seiner Geschichte auf den noch immer oftmals tabuisierten Aspekt der französischen Kollaboration.
Das ländliche Frankreich im Sommer 1944: Der jugendliche Lucien Lacombe (Pierre Blaise), dessen Vater sich fern der Heimat in Kriegsgefangenschaft befindet, arbeitet nur ungern in einem Altenheim und verdient etwas zum Lebensunterhalt seiner Mutter (Gilberte Rivet) hinzu. Auf dem elterlichen Hof herrscht zunehmend ein neuer Mann, und Lucien ist dort nicht mehr gern gesehen, wie seine Mutter ihm unbarmherzig zu verstehen gibt. Orientierungslos und sich selbst überlassen bemüht sich der politisch völlig unbedarfte junge Mann zunächst, bei einer der Gruppen des französischen Widerstands unterzukommen, wird jedoch als ungeeignet abgelehnt.

Mit einem kleinen Koffer, der seine spärliche Habe birgt, ist Lucien nun ziel- und planlos in den Dörfern unterwegs, bis er in einem Landhotel auf einen Stützpunkt der Gestapo trifft, die dort gemeinsam mit Kollaborateuren noch rasch ein paar Widerständige plündert und ermordet, während die Alliierten bereits in der Normandie gelandet sind. Dort nimmt man sich launisch des wortkargen Herumtreibers an, und rasch arbeitet Lucien im Dienste der deutschen Geheimpolizei, was ihn in eine schmeichlerische Position katapultiert, die ihm einige Annehmlichkeiten verschafft und erhebliche Macht über das Schicksal anderer Menschen verleiht. Als er den Schneider Albert Horn (Holger Löwenadler) und vor allem dessen attraktive Tochter France (Aurore Clément) kennen lernt, die mit der Großmutter (Therese Giehse) halb versteckt und unauffällig vom politisch unsicheren Paris aufs Land geflüchtet sind, nistet sich Lucien dreist bei der jüdischen Familie ein, obwohl diese der Nazi-Ideologie nach den Feind darstellt und keineswegs erfreut über den penetranten Gast ist.. Die Konflikte bleiben nicht aus, und die Situation spitzt sich zu, als Luciens Vorgesetzter sich für den Schneider zu interessieren beginnt, dessen Papiere gefälscht sind…

Trotz seiner nahezu dokumentarischen Nüchternheit ist Lacombe Lucien ein intensiver und höchst spannender Film, der den Zuschauer packt und durch Wendungen, die sich ganz gefährlich nah am Rande einer Eskalation bewegen, stets aufs Neue fesselt, obwohl im Grunde keine seiner Figuren wahrhaft sympathisch erscheint. Das Ensemble mit Therese Giehse als wortlos-widerständiger Großmutter, Aurore Clément als zwischen Abscheu und abhängiger Anziehung hin und her gerissener junger Frau und zuvorderst Pierre Blaise als wenig preisgebender, schlichter Bauernsohn agiert einfach bravourös. Der junge, unerfahrene Darsteller wurde gezielt als absoluter Laie von Louis Malle ausgewählt, um die Rolle des naiven Lucien so authentisch wie möglich zu besetzen, was ausgezeichnet gelang. Die augenscheinliche Beliebigkeit und scheinbare Emotionsarmut, mit der Lucien seine Entscheidungen beinahe passiv fällt, illustrieren eindringlich auch eine eher abstrakte Komponente des politischen Geschehens, die den Filmemachern sehr wichtig war, wie dem interessanten Begleitmaterial unter den Extras der DVD zu entnehmen ist: Wie leicht es ist, auf die falsche Seite zu geraten.

Einerseits mit einigen Preisen geehrt, andererseits von der Kritik hart angegriffen ist Lacombe Lucien zweifellos kein Film, der auch nur ansatzweise Wohlbefinden bei seinem Publikum auslöst, sondern hohe Filmkunst, die dem Zuschauer ein ebensolches Maß an Unbehagen angesichts des ernsthaften, schwierigen Themas um Macht, Verrat und Ohnmacht schlichtweg ungebremst zumutet, und zwar bis zum Schluss und darüber hinaus.

Lacombe Lucien

Dieser Spielfilm von Louis Malle aus dem Jahre 1974 gehört zu den umstrittensten Werken des französischen Regiemeisters, befasst er sich doch mit dem diffizilen Thema der nationalsozialistischen Besetzung Frankreichs im Zweiten Weltkrieg.
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