Das süße Jenseits

Eine Filmkritik von Joachim Kurz

Der Tod, die Trauer und das Weiterleben

Kann es ein größeres Unglück geben als den Tod eines geliebten Kindes? Und wie geht man mit diesem Unglück um, wie kann man danach überhaupt noch weiterleben, wie den Zorn, die Wut, die Hilflosigkeit verarbeiten? Dies alles sind die Fragen, um die sich Atom Egoyans Film Das süße Jenseits / The Sweet Hereafter dreht. Hier trifft das Unglück des Verlustes allerdings nicht eine einzelne Familie, sondern eine ganze Dorfgemeinschaft irgendwo in den winterlichen Weiten Kanadas. Auf den vereisten Straßen gerät der Schulbus, der die Kinder der Gemeinde Sam Dent in British Columbia in die entfernte Schule bringen soll, ins Schleudern, rutscht auf einen zugefrorenen See, bricht ein und versinkt in der Tiefe. Nur die Busfahrerin Dolores Driscoll (Gabrielle Rose) und die Schülerin Nicole Burnel (Sarah Polley) überleben das Unglück, bei dem 13 Kinder sterben, doch die beiden zahlen einen hohen Preis für ihr Glück im Unglück. Nicole, die seit dem Unfall querschnittsgelähmt ist, leidet sichtlich darunter, dass sie überleben „musste“ und die Fahrerin Dolores macht sich schwere Vorwürfe und fragt sich immer und immer wieder, ob sie das Unglück hätte verhindern können.
Geschürt werden die Verunsicherungen von dem Anwalt Mitchell Stephens (Sir Ian Holm), der versucht, die Eltern der verstorbenen Kinder zur horrenden Schadensersatzklagen zu bewegen, um – wie er es sagt – „ihrem Zorn eine Richtung zu geben“. Doch es sind nicht allein altruistische Motive oder die Gier nach Geld, die den Anwalt antreibt, er kompensiert vielmehr damit, dass er seine eigene drogenabhängige Tochter nicht vor dem Verderben retten kann und er als Vater versagt hat. Die Bewohner von Sam Dent werden auf diese Weise gezwungen, sich nicht nur ihrer Trauer zu stellen, sondern auch klar und deutlich Position zu beziehen, ob sie der Trauer oder der Wut den Vorzug geben, die Gemeinde steht vor einer Zerreißprobe und ist bald in zwei Lager gespalten…

Auch wenn es auf den ersten Blick betrachtet wie bei einer klassischen Detektivgeschichte darum geht herauszufinden, was wirklich geschah, ist Das süße Jenseits / The Sweet Hereafter viel mehr als nur ein spannender Film über das große, das letzte Thema Tod und Trauer. Denn zugleich zeigt Egoyan, einer der bedeutendsten Filmemacher unserer Tage, in gewohnt brillanter Weise, wie man Filme sinnlich und intelligent erzählen kann und wie man trotz vieler verschiedener Perspektiven seiner Geschichte von Anfang bis Ende treu bleibt. Meisterhaft verknüpft Egoyan die vielen unterschiedlichen Personen mit moralischen Fragen und umschließt das Ganze mit dem Meta-Thema des Märchens vom Rattenfänger von Hameln – eine Metapher nicht nur für den Tod der Kinder, sondern auch für die Verlockungen des Geldes und die Bemühungen des Anwalts. Unzweifelhaft einer der besten Filme der Neunziger, und einer der poetischsten, nachdenklichsten und wahrhaftigsten dazu…

Das süße Jenseits

Kann es ein größeres Unglück geben als den Tod eines geliebten Kindes? Und wie geht man mit diesem Unglück um, wie kann man danach überhaupt noch weiterleben, wie den Zorn, die Wut, die Hilflosigkeit verarbeiten?
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