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In Léa Mysius’ Debütfilm, der in Cannes in der Reihe Semaine de la Critique gefeiert wurde, erblindet eine 13-Jährige und gewinnt doch gerade in dieser Lage eine ungeahnte Freiheit.

Ava (2017)

Eine Filmkritik von Joachim Kurz

Blind und doch sehend

Ein kohlrabenschwarzer Hund weist den Weg und verbindet das, was sonst nicht zusammengefunden hätte: Das Tier, das zu Beginn von Léa Mysius’ Film „Ava“ den Strand entlangläuft und schließlich bei der Titelfigur (gespielt von der hinreißenden Noée Abita) landet, gehört eigentlich dem 18-jährigen Juan (Juan Cano) — und der ist eigentlich ein Typ, mit dem Eltern (oder in Avas Fall ihre Mutter) einem den Umgang verbieten. Dabei ist doch Sommer, es sind Ferien und die Tage am Strand würden sich bestens eignen für einen kleinen Flirt oder vielleicht auch mehr …

Doch Avas Ferien stehen unter einem schlechten Stern: Sie wird, so haben die Ärzte festgestellt, bald schon ihr Augenlicht verlieren, eine Retinis pigmentosa, eine in diesem Falle nicht heilbare Auflösung der Netzhaut wurde bei ihr diagnostiziert und zwingt sie wie auch ihre Mutter (Laure Calamy) zum Warten auf das herannahende Unabwendbare. Zunächst, so der Arzt, wird Ava nachtblind werden, dann wird es auch bei Tage zunehmend dunkler werden um sie herum. Es ist Avas letzter Sommer, in dem sie etwas sehen kann, ihre letzten Bilder, die sie in sich aufsaugen wird, bevor sie in ewiger Finsternis versinkt.

Eingedenk der baldigen Dunkelheit und auch wegen der Hilflosigkeit ihrer Mutter, mit der Krankheit umzugehen, beginnt Ava zu trainieren, indem sie mit verbundenen Augen auf einem Dach umherläuft, und entdeckt dabei das Prickeln der Gefahr. Als sie dem jungen Rom Juan wiederbegegnet, dessen Hund sie sich einfach mal kurz ausgeborgt hatte und der sie nun neugierig beim Nacktbaden am Strand beobachtet, verspricht diese Begegnung eine Intensivierung der Gefahr. Denn Juan hat nicht nur Ärger mit der Polizei, sondern auch mit seinem eigenen Clan — damit verkörpert er genau jene Freiheit, die Ava durch ihre schleichende Erblindung verlieren wird. Wie Bonnie und Clyde bedrohen die beiden Polizisten, rauben in wilden, archaisch anmutenden Verkleidungen Touristen am Strand aus (musikalisch untermalt von Sharon Jones & the Dap Kings) und machen sich auf den Weg zum Lager von Juans Familie, um dort seine Papiere zu holen.

Gerade 29 Jahre alt ist die Regisseurin Léa Mysius; Ava war ihr Abschlussfilm an der Pariser Filmhochschule La Fémis, das Drehbuch schrieb sie in nur wenigen Tagen. Sie hat darin vor allem eigene Erfahrungen eingewoben: Während des Verfassens des Skripts, das unter enormem zeitlichem Druck geschah (was man dem Film aber niemals anmerkt), wurde Léa Mysius von starken Migräne-Attacken geplagt, die sie dazu zwangen, das Schreiben überwiegend in stockdunklen Räumen zu erledigen. Dies und Erinnerungen an eigene kindliche Ängste versetzten sie in die Lage, ein Skript aufs Papier zu zaubern, dessen filmische Umsetzung zu den verheißungsvollsten Talentproben des jungen französischen Kinos zählt.

Gedreht wurde der Film nicht digital, sondern auf 35mm — und genau dieses Material fängt das Spiel der Elemente und Emotionen ungleich sinnlicher ein, als es mit digitalem Equipment möglich gewesen wäre. Gerade die scheinbare Einschränkung des Materials entpuppt sich schlussendlich als Glücksgriff und als Katalysator für einen Film, der sich viele Freiheiten herausnimmt, Themen, Motive und Stile wild durcheinander wirft und immer wieder neue Wege und Abzweigungen ausprobiert. Weit abseits jeglicher Coming-of-Age-Formelhaftigkeit wirkt Ava auf ebenso rätselhafte wie energetische Weise erfrischend und berührend und scheint über eine direkte Verbindung zu der Gedankenwelt seiner hinreißenden Protagonistin zu verfügen. Das vielleicht aufregendste Debüt der letzten Zeit.

Ava (2017)

Die 13-jährige Ava wird bald schon ihr Augenlicht verlieren — und das noch viel früher, als der Arzt das zunächst prognostiziert hatte. Nun verbringt sie die Sommerferien am Atlantik und ihre Mutter hat sich in den Kopf gesetzt, einfach so zu tun, als sei alles ganz normal. Ava geht auf eine ganz andere Art und Weise mit ihrem Schicksal um und stiehlt einen großen schwarzen Hund, der eigentlich einem junge Mann gehört, der sich auf der flucht befindet …

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