89 Millimeter - Freiheit in der letzten Diktatur Europas

Das letzte sozialistische Freilichtmuseum

Das „letzte sozialistische Freilichtmuseum“ — mit diesen Worten hat die taz einmal Weißrussland bezeichnet, was sich irgendwie niedlich und beinahe verharmlosend anhört. Seit 1994 herrscht hier autokratisch der Präsident Alexander Lukaschenko, der als der letzte Diktator in Europa gilt. Nach zwei Amtszeiten stehen demnächst wieder einmal Wahlen an. Und weil sich Lukaschenko, der als letzter Regierungschef in Europa noch die Todesstrafe verhängen darf, sich seiner Sache anscheinend doch nicht so sicher sein darf, werden flugs noch einige Parteien und NGOs (Non-governmental organizations) verboten und missliebige Journalisten diskreditiert oder verschleppt, ohne dass sich dagegen allzu viel offizieller Widerstand regen würde – ganz normaler Alltag in Weißrussland eben.
Dass hier einiges anders läuft als etwas weiter westlich, dafür gibt es ein schönes Symbol: Wer die polnisch-weißrussische Grenze mit dem Zug passiert, erfährt ein Ritual, dass dem Dokumentarfilm von Sebastian Heinzel seinen auf den ersten Blick befremdlichen Titel gab: Die Lokomotive und Anhänger werden hochgehoben und auf andere Fahrgestelle gesetzt. Der Grund dafür ist einfach und Eisenbahnfans in aller Welt natürlich längst bekannt: Statt der in Westeuropa (mit Ausnahme von Finnland, Portugal, Spanien und Irland), China, Nordamerika und Nordafrika verbreiteten Standardspur (=1435 mm) gibt es in den ehemaligen Staaten der Sowjetunion eine Spurweite von 1524 mm, die so genannte russischen Spur, die sich auch in Finnland wiederfindet. Nun sind diese 89 Millimeter kein allzu großer Unterschied, möchte man meinen, doch für Heinzel ist dies ein deutliches Indiz dafür, dass sich in Weißrussland für westeuropäische Augen eine neue Welt eröffnet. Als Repräsentanten dieser anderen Welt wählt der Regisseur sechs junge Leute seines Alters: Slava, 25, ist der Sohn eines politisch Verfolgten, er pendelt zwischen Frau und Kind in Belarus und den Eltern in Deutschland. Pavel hingegen hat einen mehrjährigen Gefängnisaufenthalt hinter sich und arbeitet nun als Fassadenstreicher. Igor ist Soldat und kann beim besten Willen keine Anzeichen für eine Diktatur erkennen, während die Tanzlehrerin Olga sich als Go-Go-Girl in üblen Spelunken verdingt und von ihrer Ausreise träumt. Ludmilla ist eine angehende Journalistin, doch seit dem Verbot einer Jugendzeitschrift, für die sie arbeitete, hat sie jegliche Perspektive verboten und flüchtet sich in marginale Akte eines Widerstandes, indem sie etwa an der Uni raucht. Einzig Alexander engagiert sich offen in der Widerstandsbewegung des Landes mit dem Namen ZUBR (russisch für Bison, das Nationalsymbol von Belarus).

In dieser scheinbar zufälligen Auswahl der Gesprächspartner, die allesamt qualmen und saufen, was das Zeug hält, offenbart sich die gesamte Bandbreite der weißrussischen Jugend zwischen Resignation, Anpassung, Eskapismus und Widerstand. Insgesamt ein sehenswerter, wenngleich ab und zu etwas indifferenter und naiver Film, der verdeutlicht, dass der Unterschied zwischen dem Leben in einer Demokratie und einer Diktatur weitaus mehr beträgt als 89 Millimeter.

89 Millimeter - Freiheit in der letzten Diktatur Europas

Das „letzte sozialistische Freilichtmuseum“ — mit diesen Worten hat die taz einmal Weißrussland bezeichnet, was sich irgendwie niedlich und beinahe verharmlosend anhört.
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Meinungen

dondisco · 07.12.2005

Großartiger Film über die Träume junger Menschen in einer Diktatur. Und deren Lebenswirklichkeit... Unbedingt sehenswert