Ghetto

Eine Filmkritik von Marie Anderson

Ein beunruhigendes Stück zur Geschichte des Holocausts in Litauen

Als der israelische Dramatiker Joshua Sobol die jiddischen Lieder zu hören bekommt, die zur Zeit des Nationalsozialismus für Aufführungen des jüdischen Ghetto-Theaters im litauischen Vilna komponiert wurden, ist er tief bewegt. Diese unter unmenschlichen Bedingungen enstandene Musik berührt ihn derart heftig, dass er ein äußerst realistisches Bühnenstück zu den damaligen historischen Ereignissen in Vilna verfasst, das mit bedeutenden Preisen ausgezeichnet, in 20 Sprachen übersetzt und vor einem ergriffenen Publikum in 25 Ländern aufgeführt wird. Nun wird die filmische Variante der dramatischen Geschichte des Ghetto-Theaters inszeniert vom litauischen Regisseur Audrius Juzenas bei uns in den Kinos zu sehen sein.
Während des Zweiten Weltkrieges im Jahre 1941 ist Vilna in Litauen von den Deutschen besetzt und die jüdische Bevölkerung gezwungen, unter der Willkür des ebenso jungen wie fanatischen Nazioffiziers Kittel (Sebastian Hülk) in der Enge und Bedrohlichkeit des größten Ghettos der Region zu leben. Kittel ist einerseits ein Mensch von explosiver Grausamkeit und andererseits ein großer Liebhaber von Kunst und Musik, und nicht selten trägt er zweierlei Koffer mit sich herum, von denen der eine ein Gewehr enthält und der andere ein Saxophon. In der Ghetto-Welt herrscht er mit spielerischem Zynismus über das Schicksal der ihm ausgelieferten Juden, von denen bereits etliche getötet wurden, und seine unberechenbare Mordlust macht das Überleben der Menschen bei Zeiten von einer perversen Laune des Zufalls abhängig.

Eines Tages entdeckt Kittel im Gebäude eines ehemaligen Theaters eine kleine Gruppe jüdischer Schauspieler, die nach erschöpfender Flucht vor ihrer Exekution ausgerechnet ins Ghetto gelangt sind. Der Nazi-Scherge wittert rasch die Gelegenheit, die Akteure zu seinem ganz persönlichen Ensemble zu rekrutieren, zumal ihm die Sängerin Haya (Erika Marozsán) ausgesprochen gut gefällt, und er verlangt von der Truppe die Eröffnung eines Ghetto-Theaters. Es ist offensichtlich, dass sein Wille Gesetz ist, und so beugen sich sowohl die unwilligen Schauspieler als auch die wenig begeisterte jüdische Ghetto-Gemeinschaft der absurd anmutenden Idee des Lagerleiters.

Mit waghalsigem Trotz inszeniert die Truppe um Haya, deren Figur die Geschichte des Films erzählt, als erstes Stück eine provokante Parodie Kittels, die diesen nach anfänglichem Unmut jedoch amüsiert, und die jüdische Sängerin und das Theater avancieren zunehmend zu Stimmungsgestaltern des launischen Offiziers. Auf Bitten des jüdischen Kommandanten der Ghetto-Polizei Gens (Heino Ferch) bemüht sich die Schauspieltruppe, Kittel mit ihren Aufführungen milde zu stimmen, der sich immer haltloser in Haya verliebt, die mitunter ihren Einfluss zum Wohle ihrer Leidensgenossen geltend machen kann. Dazu geht die Sängerin widerwillig manchmal zum Schein auf Kittels Annäherungen ein, obwohl ihr Herz dem Bauchredner Srulik (Andrius Zebrauskas) gehört, der als Theaterleiter fungiert und den Nazi-Schergen oft mit seinen humoristischen Künsten von gewalttätigen Aktionen abzulenken vermag.

Es beginnt ein Schwindel erregender Balanceakt der Künstler, den Lagerleiter bei Laune zu halten und gleichzeitig erfinderisch um jedes einzelne Leben der Juden zu feilschen sowie permanent um das eigene zu bangen. Auch wenn dabei kleinere Siege errungen werden können, führt Kittels unvermittelter Sadismus immer wieder zum Tod zahlreicher Menschen, was vor allem für Gens wachsend unerträglich wird. Als direkter Untergebener Kittels steckt er in dem höllischen Dilemma, dessen tödliche Befehle umsetzen zu müssen und gleichzeitig dennoch manchmal auch durch seine Position als jüdischer Kommandant Leben retten zu können; seine tragische Figur ist eine der eindringlichsten Erschütterungen, die sich in diesem Film verbergen.

Als die Deutschen 1943 von russischen Truppen zunehmend zurückgedrängt werden, nähert sich die Schreckensherrschaft in Vilna ihrem Ende, wobei Kittel den Befehl erhält, das Ghetto aufzulösen und sämtliche Bewohner als unliebsame Zeugen zu beseitigen. Vor allem Haya und Gens sind nun verzweifelt darum bemüht, Kittel davon zu überzeugen, sie selbst und ihre Schicksalsgenossen überleben zu lassen, jetzt, wo die Rettung so nah ist. Doch der fanatische Kittel befindet sich bereits jenseits jeglicher Vernunft und Moral und ruft im Zustand einer euphorischen Panik sein jüdisches Ensemble auf der Bühne zusammen, wo er eine letzte Vorstellung von ihnen verlangt …

Der litauische Regisseur Audrius Juzenas drehte Ghetto eng angelehnt an das Bühnenstück von Joshua Sobol an den historischen Orten der Ereignisse in Vilna selbst, was der immens realistischen Handlung nach wahren Begebenheiten eine beinahe grotesk authentische Dimension verleiht, wenn man bedenkt, wie viele Menschen dort tatsächlich ermordet wurden. Für die Realisierung seines Projektes gewann Juzenas, der in Vilna geboren wurde und nach wie vor dort lebt, die Unterstützung zahlreicher Institutionen wie die des Litauischen Kultusministeriums, der Filmförderung Hamburg und der Filmstiftung Nordrhein-Westfalen, und der Film stellt einen Beitrag innerhalb des nationalen Litauischen Holocaust Gedenkprogramms dar.

Ghetto beschwört innerhalb des Szenarios des organisierten nationalsozialistischen Völkermordes in Litauen eine Geschichte von nahezu unerträglich zerrissener Emotionalität und moralischer Brisanz, die von der schauspielerischen Leistung der Akteure angemessen würdig repräsentiert wird. Geht es einerseits um die Korruption und Korrumpierung absoluter Machtverhältnisse einzelner Personen, so werden andererseits verstörend heikle Fragen nach dem Wert einer menschlichen Existenz aufgeworfen, deren Dimensionen den Zuschauer auch nach dem Film noch beunruhigen.

Ghetto

Als der israelische Dramatiker Joshua Sobol die jiddischen Lieder zu hören bekommt, die zur Zeit des Nationalsozialismus für Aufführungen des jüdischen Ghetto-Theaters im litauischen Vilna komponiert wurden, ist er tief bewegt.
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