Nicht böse sein!

Eine Filmkritik von Joachim Kurz

Leben mit Hartz IV

Manches Mal liegen die wahren Geschichten, die das Leben schreibt, in nächster Nähe, und man braucht nur ein gehöriges Maß an Sensibilität, um die Relevanz zu erkennen. Während sämtliche Stammtische in Deutschland über Hartz-IV und ALG II diskutieren, recherchierte der Filmemacher Wolfgang Reinke in der Anti-Hartz-IV-Protestszene, bei Wohungslosen und Straßenzeitungsverkäufern und fand die Protagonisten seiner Dokumentation schließlich in seiner unmittelbaren Nachbarschaft. Denn Johann Wolfgang, der natürlich Gedichte schreibt, Dieter und Andi waren Nachbarn von Reinke und hatten im Haus einen üblen Ruf – Wolfgang ist „der Alki“, Dieter und Andi sind Heroin abhängig; eine tragische Wohn- und Lebensgemeinschaft mitten in Berlin, in Kreuzberg. Warum, so dachte sich Reinke, also nicht einen Film über das Zusammenleben dieser drei Männer drehen? Was zunächst beinahe wie ein Experiment à la „Unterschichten-Big Brother“ klingt, ist ein ganz erstaunlicher Film geworden, eine sensible, niemals beschönigende und zu keinem Zeitpunkt voyeuristische Studie über das Leben und Überleben von Aussteigern.
Da der Film mit minimalem Budget entstand, verzichteten Wolfgang Reinke und sein Kameramann Gines Olivares auf einen Tonmann; eine Entscheidung, die sich in den engen Räumen der 54m² großen Wohnung, die lediglich aus einem Zimmer, einem Bad und einer Küche besteht, als glücklich erwies. 47 Drehtage lang begleiteten Reinke und Olivares ihre drei „Helden“ und rückten ihnen buchstäblich auf den Leib. Und doch: Trotz der spürbaren Anspannung, trotz der desolaten Lebenssituationen, trotz der offensichtlichen Schwächen und Fehler von Wolfgang, Dieter und Andi gelingt es dem Film, eine ganz eigene und immens schwierige Balance aus Härte und Zärtlichkeit, Wahrhaftigkeit, ja Authentizität und sanfter, beinahe versponnener Poetik zu installieren, wie sie mittlerweile auch im Dokumentarfilm selten geworden ist. Die Nähe, die hier zu den Porträtierten spürbar ist, sie speist sich wohl auch aus einer Nähe der Lebensumstände: Wie Wolfgang Dieter und Andi, so kennen auch Reinke und Olivares – beide Quereinsteiger in die Filmszene – das mehr als bescheidene Leben von Hartz-IV-Empfängern und ALGII-Beziehern bestens, wissen um die Verzweiflung und die Hoffnungslosigkeit einer solchen Situation. Vielleicht erklärt ja auch das das besondere Vertrauensverhältnis, das immer wieder zu spüren ist. Finanziert haben sie ihren Film selbst, erst spät gab es Technikbeistellungen und eine kleine Fördersumme, die manche technische Unzulänglichkeit ausbügeln konnte.

Auch bei der Promotion für den Film gingen Reinke und Olivares ungewöhnliche Wege. Als der Film etwa auf dem Filmfestival DOK Leipzig abgelehnt wurde, entschloss sich Reinke zu einer spektakulären Gegenaktion: Finanziert durch eine Filmparty in Berlin mietete das Team einen alten Bus und kutschierte nach Leipzig, um den Film dann schließlich doch vor dem offiziellen Festivalzentrum zu zeigen. Beworben wurde die Aktion durch selbst fabrizierte Handzettel mit der Aufschrift „Festivalscreening aus Anlass der Sonderreihe ‚Passt nicht ins Programm’“. Nun endlich findet die lange Odyssee dieses Film doch noch ihr glückliches Ende – Nicht böse sein! wird in einigen ausgesuchten Kinos zu sehen sein. Der Regisseur und sein Kameramann haben mit diesem Film bewiesen, dass ein Ausstieg aus dem Elend möglich ist, dass ein kreativer Umgang neue Wege und Perspektiven eröffnen kann, dass kleine Erfolgserlebnisse nötig und wichtig sind. Vielleicht ist dieser Film ja auch der Anfang vom Ende des Stillstandes bei den drei Protagonisten. Zu wünschen wäre das allen Beteiligten ebenso wie ein möglichst großes Publikum für diesen mutigen, ungewöhnlichen und tapferen kleinen Film.

Nicht böse sein! wurde von der Filmbewertungsstelle Wiesbaden (FBW) mit dem Prädikat „besonders wertvoll“ ausgezeichnet.

Nicht böse sein!

Manches Mal liegen die wahren Geschichten, die das Leben schreibt, in nächster Nähe, und man braucht nur ein gehöriges Maß an Sensibilität, um die Relevanz zu erkennen.
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Meinungen

theo · 05.11.2007

Klasse Film! Mehr davon bitte!!!
Wieso war dieser Film eigentlich nicht auf den Festivals zu sehen?