Sobibór, 14. Oktober 1943, 16 Uhr

Eine Filmkritik von Wolfgang Nierlin

Handeln oder Sterben

Als Beispiel für die „Wiederaneignung von Kraft und Gewalt durch die Juden“ versteht der Filmemacher Claude Lanzmann den Aufstand im Vernichtungslager von Sobibór, dem einzigen in der Geschichte des Holocaust, der jemals gelang. Sein Film Sobibór, 14. Oktober 1943, 16 Uhr / Sobibór, 14 Octobre 1943, 16 Heures richtet sich ausdrücklich gegen die Legende, dass die Juden ihre Ermordung weder geahnt noch sich ihr widersetzt hätten. Er gibt aber auch lebendiges Zeugnis davon, wie durch eine notwendige Revolte die menschliche Ordnung wiederhergestellt wurde. Während Lanzmanns epochales Werk Shoah den Prozess der Erinnerung auf die, so Lanzmann, „Radikalität des Sterbens“ verdichtet und seine Spurensuche ins Zentrum des Todes verlegt, spricht aus Sobibór, 14. Oktober 1943, 16 Uhr / Sobibór, 14 Octobre 1943, 16 Heures ein unerschütterlicher Überlebenswille und der Mut zur entschlossenen Tat. Lanzmann möchte deshalb seinen Film auch emblematisch verstanden wissen, indem er die mythologische Geschichte vom Sieg Davids über Goliath am historischen Fall neu erzählt.
Insofern ist Sobibór, 14. Oktober 1943, 16 Uhr / Sobibór, 14 Octobre 1943, 16 Heures auch eine filmische Reflexion über die Darstellbarkeit von Geschichte. Als „Fiktion des Realen“ hat Lanzmann die schöpferische Qualität seiner Arbeit bezeichnet, die sich den üblichen Methoden musealer Vergangenheitsbewältigung bewusst entgegenstellt. Die „Verwaltung der Erinnerung“ bekämpft er mit dem „lebendigen Wort“ und mit Bildern, die weder illustrierend noch dramatisierend sein wollen, sondern die die Spuren des Vergangenen in konzentrierten Abbildern des Gegenwärtigen aufsuchen. Gerade dadurch entsteht auch eine unüberbrückbare Kluft, eine Differenz im Verhältnis von An- und Abwesenheit. Das, was sich entzieht, ist aber zugleich jener unhintergehbare Teil von Geschichte, der immer wieder neu erzählt und insofern auch erfunden werden muss.

Schon auf der Materialebene handelt Lanzmanns Film von dieser Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen, die an die Imaginationskraft des Zuschauers appelliert und so eine Spannung zwischen historischen Fakten und ihrer individuellen Bearbeitung erzeugt. Bereits 1979, anlässlich der Aufnahmen für Shoah, hatte Claude Lanzmann mit Yehuda Lerner gesprochen, der als 16jähriger an der Planung und Durchführung des Aufstands von Sobibór beteiligt war. In der ersten Hälfte des Films erzählt Lerner die fast unglaubliche Geschichte seiner Fluchten, die er in der Retrospektive als unwahrscheinliches Glück bezeichnet. Innerhalb von sechs Monaten gelang es ihm acht Mal, aus Konzentrationslagern in Weißrußland und Polen zu fliehen, ohne dafür hingerichtet zu werden. Immer wieder hatten ihn Deutsche aufgegriffen, die nicht direkt seine Verfolger waren. Sachlich und konzentriert folgt Lanzmann den Stationen dieser Verschleppung, indem er zwanzig Jahre später den Zustand dieser Orte, ihre Geschichtlichkeit, filmt: Den berüchtigten „Umschlagplatz“ in Warschau, wo man die Juden zum Abtransport zusammentrieb und Lerner von seiner Familie getrennt wurde, die in Treblinka verschwand; weite Waldlandschaften im Dämmerlicht auf dem Weg nach Minsk; dort das „Loch“, wo Juden einst erschossen wurden und heute ein Mahnmal steht; schließlich Sobibór, eine kleine, selten angesteuerte Bahnstation im Niemandsland.

Lanzmanns Versuch, Lerners „innere Entscheidung zur Revolte“ nachzuvollziehen, findet bereits hier eine Antwort: Der Überlebenswille und der kämpferische Mut waren – angesichts allgegenwärtigen Hungers und Siechtums, was Lerner nachdrücklich als „Nicht-Leben“ bezeichnet – stärker als die Angst vor Strafe und Tod. Im zweiten Teil von Sobibór, 14. Oktober 1943, 16 Uhr / Sobibór, 14 Octobre 1943, 16 Heures, der sich ausschließlich auf die Planung und Durchführung des Aufstands beschränkt, spitzt der polnische Jude diesen Zwang zum Handeln noch zu: Die unmenschliche Realität habe praktisch keine andere Alternative mehr zugelassen, wenn man nicht sterben wollte. Die Erfahrung der Entmenschlichung verlangte geradezu nach einer positiven Setzung. Im Akt des Tötens vollzieht sich deshalb nicht nur eine Befreiung von Unterdrückung und Tod, sondern auf paradoxe Weise auch eine Manifestation des Menschlichen.

„Lerners Tat verkörpert das Recht und die Pflicht zu töten“, hat Lanzmann in einem Interview gesagt. Sein Film steuert entschieden auf diesen Höhepunkt zu und entwickelt über Lerners minutiösen Bericht eine enorme erzählerische Spannung. Im Zentrum dieses historischen Zeitpunkts angekommen, dem Moment, als der junge Mann mit ungeheuerlichem Mut und Präzision zum ersten Mal in seinem Leben tötet, dehnt sich die Zeit, fallen kollektive und individuelle Geschichte in eins. Die Axt, die den Kopf des SS-Offiziers Greischütz spaltet, wird zu einem Bild des Überlebens und zum Fanal des Widerstands. Dabei werden die Pünktlichkeit und das Überlegenheitsgefühl der Deutschen auf ironische Weise zu Verbündeten des gelingenden Aufstands.

Lanzmanns ästhetisches Verfahren, die Übersetzung aus dem Hebräischen zu dokumentieren, projiziert nicht nur sehr authentisch mittels Realzeit das Gesagte zurück in die Wirklichkeit des Zuschauers, sondern erzeugt auch eine Spannung zwischen erzählerischen Brüchen und Verdoppelungen. In vergleichbarer Weise gilt dies auch für den Schluss des Films, wenn Lanzmann in Englisch alle bekannten Zahlen der Opfer, die in Sobibór ermordet wurden und die Orte ihrer Herkunft vorliest, während dieser Nachweis als Schrift über die Leinwand läuft. Das Unvorstellbare liegt in diesem erschütternden Dokument. Hinter den anonymen Daten zeichnet sich grauenvoll ab, was sich als Industrie der Vernichtung und als Geographie des Todes nur unzureichend beschreiben lässt. Yehuda Lerners lebendiges Wort hat unzähligen Opfern ihre Stimme zurückgegeben.

Sobibór, 14. Oktober 1943, 16 Uhr

Als Beispiel für die „Wiederaneignung von Kraft und Gewalt durch die Juden“ versteht der Filmemacher Claude Lanzmann den Aufstand im Vernichtungslager von Sobibór, dem einzigen in der Geschichte des Holocaust, der jemals gelang.
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