Helen

Eine Filmkritik von Peter Gutting

Der schwarze Fluch

Im Jahr 2020 wird Depression die zweithäufigste Krankheit nach Herz-Kreislauf-Schäden sein. Das befürchtet die Weltgesundheitsorganisation WHO. Aber wie sieht dieses oft verheimlichte Leiden aus? Sandra Nettelbecks sehenswerter Spielfilm gibt einen schonungslos offenen Einblick.
„Es war die Hölle“, sagt Titelfigur Helen (Ashley Judd) im Rückblick einmal. Aber das sind dürre Worte, die nichtssagend bleiben angesichts dessen, was wir knapp zwei Stunden miterleben und zum Teil miterleiden. In diesem gut gebauten und spannend erzählten Drama gibt es bei aller Rücksicht auf Unterhaltungsbedürfnisse keine Schönfärberei. Helens Depression ist ein furchtbarer und unerklärlicher Abstieg, aus dem es lange Zeit kein Entkommen zu geben scheint. Das ist das Verstörende: Niemandem kann man die Schuld geben, keinem bösen Ehemann, keinen mobbenden Kollegen, keiner Rabenmutter und keinem traumatischen Erleben. Wie ein schwarzer Fluch bricht die Krankheit aus. Keiner hat sie kommen sehen, ganz plötzlich ist sie da.

Das verlangt vom Zuschauer natürlich eine gewisse Bereitschaft, sich den Tatsachen zu stellen. Auf der anderen Seite haben seelische Abgründe im Kino etwas Faszinierendes. Regisseurin Sandra Nettelbeck (Bella Martha) hält die Waage zwischen Schrecken und Anteilnahme sehr geschickt. Sie lässt uns die Qual miterleben, die ein Depressiver seiner engsten Familie bereitet. Aber sie lässt uns auch einfach zusehen, was Helen passiert – in der Schönheit der Melancholie, in der blaugrünen Schmerzensästhetik einer Großstadt am Meer. So erreicht sie ihr aufklärerisches Ziel, ohne dass wir die Absicht recht mitbekommen: uns bekannt zu machen mit den Begleiterscheinungen einer Krankheit, die nach wie vor tabuisiert wird. Der Film ist eine Herzensangelegenheit der Regisseurin. Er ist ihrer Freundin gewidmet, die sich nach langer psychischer Krankheit umgebracht hat.

Helen ist die Geschichte einer erfolgreichen Musikprofessorin auf dem Höhepunkt ihres beruflichen und privaten Glücks. Es ist ein inneres Strahlen, das in den ersten Filmminuten auf ihrem Gesicht liegt. Doch dann – sie weiß selbst nicht, warum – gerät ihr Leben total aus den Fugen. War es die Begegnung mit der jungen Cellistin, die an derselben Krankheit leidet und der es gerade schlecht geht? Das bleibt mit gutem Grund unklar, denn die suizidale Depression, die nun auch bei Helen wieder ausbricht, kann aus heiterem Himmel kommen. Sie führt in ein Loch, in dem nur der Tod die einzige Rettung scheint: ein Verführer mit magischer Anziehungskraft. Und die vermeintlich einzige Möglichkeit, den unvorstellbaren inneren Qualen und Panikattacken ein Ende zu bereiten.

Eigentlich hätte Gillian Anderson (Akte X) die Titelrolle spielen sollen. Aber wahrscheinlich war es ein Glück, dass Ashley Judd (Doppelmord) nach deren Absage einsprang. Die Schauspielerin hatte sich im Jahre 2006 unter anderem wegen Depressionen behandeln lassen und war damit ähnlich offensiv umgegangen wie in Deutschland der Fußballspieler Sebastian Deisler. Wahrscheinlich muss man vergleichbare Zustände einmal erlebt haben, um die Rolle so nuanciert und glaubwürdig zu spielen wie die Hauptdarstellerin: diese Gleichzeitigkeit von tiefster Verzweiflung und Wahren des äußeren Scheins, diese entsetzliche Scham über das eigene Versagen, dieses unbedingte Wollen und doch nicht Können.

Ganz bewusst will Sandra Nettelbeck mit Helen ein breites Publikum ansprechen. Es wäre dem Film zu wünschen.

Helen

Im Jahr 2020 wird Depression die zweithäufigste Krankheit nach Herz-Kreislauf-Schäden sein. Das befürchtet die Weltgesundheitsorganisation WHO. Aber wie sieht dieses oft verheimlichte Leiden aus? Sandra Nettelbecks sehenswerter Spielfilm gibt einen schonungslos offenen Einblick.
  • Trailer
  • Bilder

Meinungen

Anni R. · 06.12.2010

Ein Film der mich sprachlos gelassen hat.
Wie real dieser Film für viele Menschen ist erkennt man wirklich nur, wenn man in schonmal in einer ähnlichen Situation war. Ein Film der wirklich schauenswert ist.
Er ist praktisch ein Aufklärungsfilm. Besser hätte man es nicht machen können.

Margit Staerker · 04.02.2010

Als Angehörige eines Betroffenen kann ich nur sagen, dass der Film sehr authentisch war eindringlich und aufwühlend. Viele Szenen haben wir ähnlich erlebt oder empfunden. Es sollten sich nicht nur Betroffene diesen Film ansehen.