Unschuld

Eine Filmkritik von Joachim Kurz

Mit Arthur Schnitzler durch Berlin

Spätestens seit Robert Altmans Short Cuts erfreuen sich Episodenfilme in den Arthouse-Kinos großer Beliebtheit und werden immer wieder gerne bemüht, um dramaturgische Konventionen aufzuweichen und zu variieren. Was dabei gerne vergessen wird: Kaum etwas ist schwieriger, als verschiedene Personen und Storylines so zusammenzuführen, dass daraus ein großes Ganzes entsteht und der erzählerische rote Faden nicht verloren geht. Dementsprechend hoch ist die Fallhöhe und kaum einem Film ist es vergönnt, in die Fußstapfen Altmans zu treten.
Wie schwierig der Umgang mit dieser Filmgattung ist, zeigt sich auch bei Andreas Morells Unschuld, der in Anlehnung an Arthur Schnitzlers Theaterstück Der Reigen in unterschiedlichen Episoden vom Verlust der Unschuld und der Suche nach einem Lebenssinn erzählt. Kein leichter Stoff, also, an dem sich bereits einige Regisseure versucht haben, von Max Ophüls bis Dieter Berner, der 2006 bereits eine aktualisierte Version unter dem Titel Berliner Reigen auf die Leinwand brachte. Während Berner sich weitgehend an die dramatische Vorlage hält und diese nur behutsam aktualisiert, gehen Andreas Morell und sein Drehbuchautor Kai Hafemeister wesentlich freier mit dem Basismaterial um – was man allein schon daran sieht, dass Unschuld die Geschichten von elf Personen erzählt, während Schnitzlers Bühnenstück lediglich zehn Figuren porträtiert.

Da ist beispielsweise der schüchterne Berliner Busfahrer Raimo (Ronald Kukulies), dem eines Nachts eine unbekannte junge Frau (Luise Berndt) vor den Bus läuft, die er fortan verzweifelt sucht. Häufig mit an Bord seines Gefährts ist die aus Asien stammende Prostituierte Kim (Young-Shin Kim), deren Schwester in Berlin ums Leben kam und die sich danach sehnt, in ihre Heimat zurückzukehren. Außerdem gibt es den Rockmusiker Chris Cohn (Tobias Oertel), der eine Affäre mit der frustrierten Julia (Leslie Malton) beginnt und von der jungen Türkin Derya (Aylin Tezel) verfolgt wird, die unbedingt mit ihm schlafen will. Die Polizistin Simone (Nadeshda Brennicke) hingegen realisiert, dass ihre Ehe mit Peter (Jevgenij Sitochin) längst nur noch eine Farce ist, so dass sie sich auf das Werben des wesentlich jüngeren und kecken Matte (Jacob Matschenz) einlässt. Und nicht zuletzt ist da der Bundestagsabgeordnete Alexander (Kai Wiesinger), der sein Mandat niederlegt und Kims Nähe sucht. Doch Kims Zuhälter Christoph (Michael Kind) denkt nicht im Traum daran, eines „seiner Mädchen“ gehen zu lassen. Am Ende fließen alle Geschichten, die sich immer wieder kreuzen, zusammen und enthüllen, wie alles mit allem zusammenhängt.

Auch wenn der Film zwischendrin immer wieder wundervolle Szenerien erschafft und grandiose Bilder findet – wenn etwa der Bus durch die verregnete Berliner Nacht kreuzt, als sei er ein Geisterschiff auf einem Ozean von Düsternis: Insgesamt ist Morells Blick auf die verschlungenen Schicksale zu kalt, zu distanziert und zu klischeebeladen, um wirkliches Interesse an den einzelnen Geschichten zu wecken. Das mag auch daran liegen, dass die Motive der Protagonisten und ihr Fühlen kaum je gezeigt oder auch nur angedeutet werden – alles ist irgendwie unglaublich bedeutungsschwer, aber nicht wirklich nachvollziehbar. Bisweilen fühlt man sich an die Traumlogik von Stanley Kubricks Eyes Wide Shut erinnert – auch diesem Film liegt ja eine Geschichte von Arthur Schnitzler zugrunde. Damit enden die Gemeinsamkeiten aber auch schon.

Während Kubrick nämlich stets auf ironischer Distanz zu seinen Figuren bleibt, schwelgt Morells Film in Details, angeschnittenen Porträts und Nahaufnahmen, die den seltsam leblosen Protagonisten unangenehm auf die Pelle rücken und permanent Tiefe suggerieren, wo doch nur Langeweile und allgemeiner Lebensüberdruss vorherrscht. Dazu dräut ein wabernder Soundteppich irgendwo zwischen Esoterik-Gedudel und Großstadtgeräuschen – so viel erlesenes Elend muss man erstmal aushalten.

Vor diesem Hintergrund geraten die Personen zu Abziehbildern der Wirklichkeit: Die Polizistin, die junge Türkin, der Zuhälter, der Busfahrer, die Prostituierte, der Politiker und der Rockmusiker – sie suggerieren einen Querschnitt durch die urbane Gesellschaft der deutschen Hauptstadt und wirken doch kaum jemals lebensecht, sondern als fleischgewordene und übermäßig zugespitzte Metaphern. Und so reden sie auch: Ständig wird bedeutsam geschwiegen oder noch bedeutsamer geredet, wenn etwa Chris zu Derya nach dem Schäferstündchen sagt: „Lass uns noch eine Zigarette rauchen“, woraufhin Derya entgegnet: „Ich rauche nicht.“ Der stets am Whiskyglas nippende Musiker daraufhin: „Ich auch nicht. Dann fangen wir halt zusammen an.“ Spricht’s und nimmt die geöffnete Zigarettenschachtel aus seiner Jackentasche. Ah ja…

Als Episodenfilm scheitert Unschuld beinahe auf ganzer Linie, außer angerissenen Geschichtchen, bei denen die Motivationen und die psychologische Glaubwürdigkeit der Personen völlig auf der Strecke bleiben, gelingt es dem Film allenfalls in kurzen Momenten das zu sein, worauf er abzielt: Ein tiefsinniges Drama um eine Handvoll verlorener Seelen in der Großstadt Berlin. Ob Arthur Schnitzler an dieser modernen Fassung seines Dramas seine Freude gehabt hätte, muss eher bezweifelt werden.

Unschuld

Spätestens seit Robert Altmans Short Cuts erfreuen sich Episodenfilme in den Arthouse-Kinos großer Beliebtheit und werden immer wieder gerne bemüht, um dramaturgische Konventionen aufzuweichen und zu variieren.
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