Kinder. Wie die Zeit vergeht

Eine Filmkritik von Red.

Chronik des ostdeutschen Alltags

Langzeitbeobachtungen haben eine gewisse Kontinuität im Dokumentarfilm ostdeutscher Prägung. So haben beispielsweise Winfried und Barbara Junge „ihre“ Kinder von Golzow in 20 Filmen und mehr als 43 Stunden über einen Zeitraum von mehr als 45 Jahren hinweg begleitet. Auch andere Filmemacher wie Gerhard Kroske (Kehraus, wieder) und Thomas Heise setzen bewusst auf die Chancen, die sich daraus ergeben, Lebenswege über einen langen Zeitraum zu dokumentieren. Thomas Heise knüpft mit seinem neuen Film Kinder. Wie die Zeit vergeht an Stau – Jetzt geht’s los (1992) und an Neustadt (Stau – Stand der Dinge) (1999) an und greift die Spuren seiner Protagonisten von damals wieder auf. Wieder führt die Reise in jene Gegend zwischen Leipzig und Halle, wo sich früher die großen Chemiefabriken der damaligen DDR befanden.
Im Prolog zu dem neuen Film wird der Zuschauer noch einmal auf den „Stand der Dinge“ gebracht: Jeanette, so der Name der jungen Frau, erzählt aus ihrem Leben, vom Leben mit ihren zwei Söhnen Tommy, den sie schon mit 15 bekam, und von dem jüngeren Paul, von ihren Träumen, Hoffnungen und Wünschen an die Zukunft. Doch die Auskünfte sind von einer großen Bitterkeit und Resignation gekennzeichnet: An Tommy, so die Auskunft von Jeanette, komme sie überhaupt nicht mehr heran –dabei ist der Junge gerade erst in die Grundschule gekommen. Paul hingegen, der Kleine sei „noch zu retten“.

Acht Jahre später ist Tommy 15 und hat seine neunjährige Schulpflicht hinter sich gebracht. Aber er ist erst in der siebten Klasse und muss deshalb einen Antrag stellen, um weiterhin auf der Schule bleiben zu können. Ob er es packen wird, steht in den Sternen. Sein bester Freund ist sein Onkel Tino, ein Rechter, der gerade mal drei Jahre älter ist als er. Mit seiner Mutter hat Tommy sich überworfen und lebt nicht mehr zuhause. Die hat sich in der Zwischenzeit endlich ihren Traum erfüllt und ist Busfahrerin geworden, außerdem hat sie ein Mädchen namens Annabelle bekommen und ist glücklich in ihrer neuen Beziehung. Tommys Bruder Paul hat gute Noten, doch den Weg aufs Gymnasium wird er wohl nicht wagen. Keine Lust, so die lapidare Auskunft, viel lieber spielt er Fußball.

Gesprächsfetzen wie diese konterkariert Thomas Heise mit stimmungsvollen Schwarzweißsequenzen der manchmal fast geisterhaft wirkenden Wohngebiete und Industrieanlagen, die wie ein stummer Kommentar oder ein Einblick in die Seelenlandschaften der Menschen in dieser Gegend sind.

Thomas Heise, 1955 in Ost-Berlin geboren, gilt als einer der bedeutendsten deutschen Dokumentarfilmer. Seine ersten Dokumentationen, die noch zu Zeiten der DDR entstanden, waren zunächst verboten und konnten erst nach dem Mauerfall aufgeführt werden. Immer wieder beschäftigt sich der Filmemacher in seinen Werken mit ostdeutschen Biographien, so etwa auch in seinem Film Mein Bruder. We Will Meet Again, der 2005 auf der Berlinale zu sehen war. Heise lehrt derzeit an der Staatlichen Hochschule für Gestaltung in Karlsruhe als Professor für Film.

Kinder. Wie die Zeit vergeht

Langzeitbeobachtungen haben eine gewisse Kontinuität im Dokumentarfilm ostdeutscher Prägung.
  • Trailer
  • Bilder

Meinungen