Ein Prophet

Eine Filmkritik von Florian Koch

Das Gefängnis als Lebensschule

Papillon, Flucht von Alcatraz, Die Verurteilten — die Liste an Gefängnisfilmklassikern ist lang. Um dem Genre neue Impulse zu verleihen benötigte es einen inszenatorischen Ansatz, der gängige Ausbruch- und Knastalltagsklischees geschickt umschifft. Dem radikalen französischen Regisseur Jacques Audiard gelingt mit Ein Prophet das Sprengen jedweder Gefängnisfilmkonvention, indem er sich ganz auf die „Ich-Werdung“ seiner Hauptfigur konzentriert. Für sein Ausnahmeepos erhielt er den Großen Preis der Jury in Cannes und eine Oscar-Nominierung für den besten ausländischen Film.
Malik El Djebenas (Tahar Rahim) Leben scheint zu Ende, bevor es richtig begonnen hat. Der 19-Jährige Einzelgänger ist der Herkunft nach Halb-Korse und Halb-Araber. Wirklich zugehörig fühlt sich der Analphabet aber zu keiner ethnischen Gruppierung. Nach einer Auseinandersetzung mit einem Polizisten wird er zu sechs Jahren Gefängnis verurteilt. Kaum im Knast angekommen muss er feststellen, dass dort eine Welt mit ganz eigenen Gesetzen vorherrscht. Zu Beginn versucht sich Malik aus allen Konflikten herauszuhalten, sich weder mit der mächtigen korsischen Fraktion, die unter der Führung des alternden Gefängnispaten César Luciano (Niels Arestrup) steht, als auch mit den Arabern einzulassen. Doch Maliks selbst gewählte Neutralität wird hinfällig, als César ihm ein tödliches Angebot unterbreitet. Malik soll zu dem Mitgefangenen Reyeb (Hichem Yacoubi) ein Vertrauensverhältnis aufbauen – nur um ihm am Ende die Kehle durchzuschneiden. Zum „Dank“ erklärt sich César bereit, Malik unter seinen Schutz zu stellen. Eine Wahl hat der verzweifelte Junge nicht, denn würde er den Auftragsmord ablehnen, drohen Césars Gefolgsleute ihn umzubringen.

Als Malik den entsetzlichen Mord begeht ändert sich sein Leben schlagartig. Er landet in einer neuen Zelle mit Fernseher und anderen Annehmlichkeiten. Obwohl Malik auch an den Besprechungen von César und seiner Bande teilnehmen darf bleibt er ihr Sklave, der von Botengängen bis zu Putzdiensten alle Dienste erfüllen muss, die César ihm aufträgt. Um sich von seinem Underdog-Status zu lösen, beschließt Malik auf die Gefängnisabendschule zu gehen. Dort lernt er den aufgeweckten Araber Ryad (Adel Bencherif) kennen, der ihm eine Zukunftsperspektive als Automechaniker in Aussicht stellt. Doch Malik hat noch ganz andere Pläne. Im Auftrag von Jordi (Reda Kateb), einem zwielichtigen Dealer, will er bei seinen von César organisierten Freigängen Drogengeschäften im großen Stil nachgehen – ohne, dass der korsische Mafiachef Wind davon bekommt. Ein heikler Plan, der auch die Hilfe des gerade entlassenen Ryad erfordert.

Audiard bezeichnet sein Gefängnisepos gerne als eine Art „Anti-Scarface“ und im Grunde trifft er damit den Kern von Ein Prophet. Der Regisseur des kraftvollen Dramas Der wilde Schlag meines Herzens erzählt ebenfalls eine mitreißende Aufsteigergeschichte mit einem kriminellen Charakter im Zentrum, der sich mit Drogengeschäften, Gewalt und der Fähigkeit zur Adaption nach oben arbeitet. Der große Unterschied zu Brian de Pamas Kultfilm besteht allerdings in der Zeichnung der Hauptfigur. Malik ist keineswegs ein durchgedrehter Waffenfetischist, der sich seinen Weg à la Tony Montana mal ebenso freischießt. Malik ist vielmehr ein Mann ohne Vergangenheit (nie zeigt Audiard Szenen vor seiner Inhaftierung) und ohne besondere Eigenschaften. Er wirkt im Knast wie ein 19-Jähriges Baby, dass erst durch den harten Gefängnisalltag erzogen wird. Das Laufen bringt ihm dabei sein strenger Ersatzvater César bei. Ihr von Machtverschiebungen geprägtes Verhältnis ist in sich absolut stimmig, was neben den exzellenten Dialogen besonders an den brillanten Schauspielern liegt.

Tahar Rahim, bisher bestenfalls als TV-Darsteller aufgefallen, zeigt als Malik eine erstaunlich nuancierte Leistung, die mit dem europäischen Filmpreis honoriert wurde. Besonders in der Szene, als er seinen ersten Mord begehen soll, kommt Rahims großes Schauspieltalent zum Tragen. Der flackernde Blick, die Angst vor dem Versagen, das blutige Spiel mit der Rasierklinge im Mund, der Schmerz einen so sympathischen Todgeweihten vor sich zu haben – all diese Empfindungen bringt Rahim so glaubwürdig und intensiv zum Ausdruck, dass es einem den Atem verschlägt. Niels Arestrup als zynischer Übervater steht ihm dabei in nichts nach. Der Hass auf die Araber, die Aura des unangreifbaren Gefängnispaten, aber auch die unterschwellige Furcht vor Machtverlust und nie mehr die Zellenmauern hinter sich lassen zu können sind ihm, der bereits in Der wilde Schlag meines Herzens mit Audiard erfolgreich zusammenarbeitete, ins Gesicht geschrieben.

Auch wenn das Verhältnis dieser Gefangenen im Mittelpunkt von Ein Prophet steht, gelingt es Audiard dennoch seine Nebenfiguren mit wenigen Strichen einprägsam zu kennzeichnen. Die ausgezeichnete Schauspielführung von Audiard korrespondiert mit der technischen Umsetzung der Geschichte. Die unaufdringliche Filmmusik von Alexandre Desplat, der präzise Schnitt und vor allem die fiebrig-entfesselte Handkamera von Stéphane Fontaine sorgen für eine ungemein dichte Atmosphäre, der man sich kaum entziehen kann.

Neben der komplex erzählten, bis ins Detail schlüssigen Geschichte, die jeder Knastklischeefalle entgeht beeindruckt vor allem Audiards Zeichnung der maghrebinischen Charaktere. Ganz im Gegensatz zur unsäglich-rassistischen Luc Besson Actionproduktion From Paris With Love, die fast zeitgleich am 25. März in den deutschen Kinos startet handelt es sich bei den Arabern in Ein Prophet um keine simpel gestrickten Terroristen oder tumbe Schläger. Ihre Ausgestoßenheit in der französischen Gesellschaft, die mangelnde Akzeptanz ihrer Religion, aber auch der kulturelle Zwang zur geschlossenen Gemeinschaft finden in Ein Prophet endlich einen filmisch differenzierten Platz. Besonders Malik, dessen Wandlung vom hoffnungslosen „Nichts“ zum kultivierten Geschäftemacher eindrucksvoll fließend verläuft ist hier im Brennpunkt, steht er doch zwischen den Fronten und versucht sich sowohl bei den Arabern als auch bei den Korsen Respekt zu verschaffen.

Alles in allem ist Audiard mit Ein Prophet ein packendes Gangsterepos gelungen, das viele Gesellschaftsprobleme aufgreift und sich simplen Verallgemeinerungen konsequent verweigert. Hätte der Regisseur auf eine mystische Überhöhung – der ermordete Reyeb taucht immer wieder als kommentierender Geist auf – verzichtet, sein Gefängnisfilm hätte in seinem makellosen Realismus Maßstäbe für das Genre gesetzt.

Ein Prophet

„Papillon“, „Flucht von Alcatraz“, „Die Verurteilten“ — die Liste an Gefängnisfilmklassikern ist lang. Um dem Genre neue Impulse zu verleihen benötigte es einen inszenatorischen Ansatz, der gängige Ausbruch- und Knastalltagsklischees geschickt umschifft.
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Meinungen

Tommie Staccato · 28.02.2010

Das hat man in Paris auch so gesehen; der Film wurde mit 9 Césars hoch dekoriert.