Cyrus

Oedipus als Muttersöhnchen

Die Anfangssequenz von Cyrus, dem ersten großen Wurf der bislang nur für Low-Budget-Produktionen bekannten Duplass-Brüder, ist vielleicht das ehrlichste, witzigste und selbstironischste Stück Komödienkino, das dieses Genre jemals hervorgebracht hat. Die Szene, von der hier die Rede ist, beginnt mit John (John C. Reilly), einem 40-jährigen frustrierten Verleger, der von seiner Ex-Frau (ja, Ex-Frau!) auf eine Party mitgeschleppt wird, um sich vom jüngsten Schock zu erholen, der ihn ergriff, als er von seiner immer noch angebeteten Verflossenen erfahren musste, dass sie in einigen Wochen einen neuen Mann heiraten werde. Was für ein Albtraum. Und dann, genau dann, als John, der Mann mit dem markant-krausen Haar, über seinen Schatten springt und zu hipper Musik, im Gemurmel ultracooler Cocktail-Gespräche, Frauen anzubaggern versucht, dabei immer wieder herbe Körbe einsteckend („Verzeihen Sie, ich unterhalte mich gerade!“ Oder: „Tut mir leid. Ich muss noch ein Telefongespräch führen!“), genau dann weiß er angesichts des wahnsinnig peinlichen Misserfolgs nichts anderes zu tun, als zur Flasche zu greifen und sich hemmungslos zu besaufen. Das nennt sich dann: Plan B.
John hat ein schweres Kreuz zu tragen: Er ist nicht besonders attraktiv, nicht besonders reich und erst recht nicht erfolgreich. Ein verkopfter Versager, ein Intellektuellen-Typus, den das Nischen-Kino der letzten Jahrzehnte so liebevoll ins Zentrum seiner Erzählkunst gerückt hat — vielleicht, weil sich das Medium selbst darin spiegelt: exzentrisch, klug und immer kurz vor dem Abgrund des Scheiterns stehend. So ist auch John: ein mittelmäßig erfolgreicher Verleger aus Amerikanisch-Suburbia, der vor sieben Jahren seine schmerzhafte Scheidung durchmachen musste und seither dem Sumpf der Einsamkeit nicht entronnen ist. „Ich bin nun mal kein DJ oder Architekt“, grollt er inmitten der Party-Gäste, damit lakonisch sein Scheitern erklärend. Erst als er Molly (Marisa Tomei) kennenlernt (übrigens: beim ausgelassenen Pinkeln im Garten), die sich von seinen existenzialistischen, unter Alkoholeinfluss immer klarer hervorstechenden psychischen Versagensnöten angezogen fühlt, scheint sich das Blatt zu wenden: John flirtet, ja flirtet mit einer attraktiven Frau, und springt deshalb vor Freude auf die Tanzfläche und singt und tanzt und kreiselt zum „coolsten Song, der jemals aufgenommen wurde“ (was allein Johns nerdige Einschätzung ist): „Don’t, don’t you want me?“. Synthesizer-Trash par excellence aus dem Jahr 1981, im halbautonomen Karaoke-Stil vorgetragen. Zum Totlachen.

John und Molly verbringen die Nacht miteinander. Und dann die nächste. Und übernächste. Merkwürdig nur, dass nach all den sexuell rasenden Treffen Molly immer wieder verschwindet, heimlich, kurz vor dem ersten Zwitschern im Morgengrauen, ohne dass John etwas bemerkt. Erst als er der Sache auf den Grund geht und auf das Haus trifft, wo seine neue Geliebte wohnt, klären sich die Umstände dieser bittersüßen Heuchelei allmählich auf. Der Grund für Mollys Zurückgezogenheit ist ein übergewichtiger, weit über 20 Jahre alter und trotzdem noch nicht gereifter junger Mann, der sich einfach nur Cyrus nennt (gespielt von Jonah Hill, eine Entdeckung). Cyrus ist kein Kumpel, kein Nachbar, ja noch nicht einmal irgendein dahergelaufener Liebhaber Mollys. Cyrus ist: ihr Sohn. Und das ist natürlich der größte aller vorstellbaren Schocks für jeden frisch verliebten, krisengestählten Ex-Single — ein Schock, der vom Überrumpelten absolute Gelassenheit erfordert. John gewöhnt sich an diese nicht leicht zu justierende Dreiecksbeziehung, versucht, das Beste aus der Situation zu machen und Freundschaft zu schließen mit dem zurückgezogenen, milchbärtigen Jungen, der trotz seines ihm nicht ansehbaren Alters immer noch bei seiner Mutter lebt und das Kindlein-Dasein genießt (samt obligatorischer Umarmungen und Gute-Nacht-Geschichten). Trotzdem kann John beizeiten seine Irritation nicht verhehlen, etwa wenn Cyrus nach einem Tag Bekanntschaft lakonisch gesteht, dass er sich super freut, endlich einen neuen Vater gefunden zu haben. Und auch sonst sind die Gewohnheiten im Hause — sagen wir mal — eher unorthodox. Die Türen bleiben nachts immer offen (blöd für das verliebte Pärchen, wenn es mal intim werden will), pikante Themen werden nicht heruntergeschluckt, sondern am Frühstückstisch weit ausgebreitet — und natürlich gibt es für Cyrus, das vollwertiges Mitglied nicht nur der Familie, sondern auch der Beziehung sein will, keinen nachvollziehbaren Grund, das Badezimmer nicht zu betreten, wenn seine Mutter nackt unter der Dusche steht. Freud hätte seine wahre Freude daran.

Cyrus gewinnt seine bitterkomische Energie vor allem durch John C. Reilly, der vielleicht einen seiner brillantesten, überzeugendsten Filme abgeliefert hat. Die Motorik seiner Augen, die Überraschungen, mit denen er uns konfrontiert, das Stammeln und Sich-Erklären vor unmöglichen Situationen, die Auseinandersetzung mit dem Pathologischen – all diese pur seinem Charakter geschuldeten Effekte machen Cyrus zu einem gigantischen Spaß. Und natürlich entwickelt sich die Erzähl-Kordel erst im Exzess, im Grotesken, dann wenn schließlich herauskommt, dass das Muttersöhnchen sich in ein zermürbendes, Verlustängste provozierendes Konkurrenzverhältnis hineingeworfen fühlt. Jetzt kämpfen beide Antipoden gegeneinander, der Liebhaber gegen das erwachsene Kind – um die Zuneigung der schlanken und überaus hübschen Mutter (Marisa Tomei gibt nach The Wrestler eine glänzende Partie ab). Die Dynamik des Hasses erreicht im Schlussteil ihren Höhepunkt, auch wenn Molly von den Antipathien nichts mitbekommen darf – hierin sind sich beide Feinde, der klassischen Kriegstheorie folgend, einig. Für den endgültigen Triumph jedoch ist jedes Mittel, jede Unsportlichkeit, jeder Seitenhieb recht.

Auch wenn die Duplass-Brüder zum Schluss nicht so recht wissen, wie der geniale Einfall des Grund-Konflikts dieser psychologisch-durchtriebenen Komödie zum Ende gebracht werden soll — Cyrus ist trotzdem ein durch und durch sehenswerter und ultrawitziger Film. Jeder, der sich mit dem Typus des verkappten Intellektuellen, wie er in American Splendor oder Sideways zur Entfaltung kommt, identifizieren kann, wird amüsiert und vielleicht ein wenig bereinigt, jedenfalls mit ironischer Haltung dem eigenen Elend gegenüber aus dem Kinosaal kommen. Und das ist dann im Endeffekt fast schon großes, griechisches Theater.

(Tomasz Kurianowicz)

Verlosung
Zum Kinostart von Cyrus verlosen wir 2x2 Kinokarten und zwei Voodoo-Puppen, mit denen Ihr, na, Ihr wisst schon ….

Wer mitmachen und vielleicht auch gewinnen möchte, muss zunächst „Fan“ von kino-zeit.de auf Facebook werden. In den Verlosungstopf kommen dann alle, die bis zum Donnerstag, den 2. Dezember 2010, 24.00 Uhr MEZ einen „Like“ oder „Comment“ unter den Verlosungs-Post gesetzt haben.

Nicht mitmachen dürfen Mitarbeiter von kino-zeit.de und Twentieth Century Fox. Gehen mehr als drei „Likes“ und / oder „Comments“ ein, entscheidet das Los.

Cyrus

Die Anfangssequenz von „Cyrus“, dem ersten großen Wurf der bislang nur für Low-Budget-Produktionen bekannten Duplass-Brüder, ist vielleicht das ehrlichste, witzigste und selbstironischste Stück Komödienkino, das dieses Genre jemals hervorgebracht hat.
  • Trailer
  • Bilder

Meinungen

mkrispien · 19.11.2010

"editor" meint im Englischen sowohl Verleger als auch Cutter. John ist letzteres, Verleger wäre bei diesem Charakter auch absurd. Ansonsten ist der Film erfrischend anders, wenn auch ein wenig unausgegoren und letztendlich ein bisschen kleinmütig, was die Tabu-Brüche betrifft. Vor allem Jonah Hill ist eine Entdeckung, für mich der neue John Candy, nur ein wenig abgründiger. Mehr davon!

Snacki · 11.11.2010

Ziemlich weird am Anfang, passiert viel zwischen den Zeilen. Halt ein kleiner US-Indie, ich mochte ihn ...

Sebi · 09.09.2010

Der Film ist das langweiligste, was ich je gesehen habe. Die Story ist in fünf Minuten erzählt und zieht sich endlos über 1,5 Stunden hin.