Amer

Eine Filmkritik von Joachim Kurz

Hommage, Albtraum, Experiment

Auf zahlreichen Festivals weltweit ist Amer, der erste Langfilm des kurzfilmerprobten Regieduos Hélène Cattet und Bruno Forzani, bereits gelaufen und hat dank seiner ungewöhnlichen Stilistik und seiner bizarren Bezugsquellen für einiges an Aufmerksamkeit gesorgt. Ganz im Stile der italienischen „giallos“ der 1960er und 1970er gedreht ist Amer ein wildes, farb- und formverrücktes und narrativ äußerst gewagtes Experiment, von dem ein ganz eigentümlicher Zauber ausgeht. Selbst wenn man die Zusammenhänge der Geschichte nicht immer begreift, weil die Realitäten der Story anderen Gesetzmäßigkeiten folgen als denen unserer realen Welt und eher psychischer oder psychopathischer Natur zu sein scheinen, ist dies ein Werk von so bizarrer Schönheit, dass man sich regelrecht hineinfallen lassen kann.
Drei Stationen im Leben einer Frau, von der Kindheit bis zum Erwachsenenleben, das ist in wenigen Worten umrissen das narrative Grundgerüst von Amer. Wie diese drei Episoden ursächlich zusammenhängen, wird nicht erklärt, man ahnt es eher, als es zu wissen. In der ersten Episode ist Ana noch ein kleines Mädchen, dessen Großvater vor kurzem gestorben ist. Er liegt nun aufgebahrt in einem dunklen Raum und übt auf das Mädchen eine ebenso merkwürdige Faszination aus wie die alte Dame (womöglich die Großmutter des Mädchens, vielleicht aber auch eine Domestikin), die sich ganz in Schwarz gehüllt um den Leichnam kümmert. Ergriffen von der unheimlichen und düsteren Atmosphäre des Hauses gerät Ana in einen Rausch, in dem panische Angst, Halluzinationen und kindliche Neugier eine Traumwelt voller Metaphern und Schockerlebnisse schaffen. Die zweite Episode schildert eine Szene aus einem Urlaub Anas an der Cote d’Azur, sie ist nun kein kleines Mädchen mehr, sondern ein Teenager an der Grenze zum Erwachsensein. Bei einem Spaziergang mit ihrer strengen und kalten Mutter begegnen die beiden Frauen einigen Halbstarken in Lederjacken. Für Ana ist dies auch eine Begegnung mit ihrer Lust, mit ihrem Begehren, das allerdings von der Mutter jäh unterdrückt wird. Im dritten Teil des Films schließlich kehrt Ana in das verlassene und düstere Haus ihrer Kindheit zurück und muss realisieren, dass die Dämonen, die sie einst als Kind zu Tode erschreckten (und faszinierten) noch immer dort schlummern und sie bedrohen – und dieses Mal ist die Gefahr höchst real und lebensgefährlich.

Neben allem Stilwillen und der formalen Brillanz ist Amer auch und vor allem bezüglich der Narration ein Experiment, dem nicht jeder Zuschauer wird folgen können und wollen — zumal sich in dem Film kaum ein Dialog findet, der die rätselhaften Vorgänge auf der Leinwand in einen rational begreifbaren Kontext einordnen könnte. Stattdessen stehen Musik (hier kommen Originalstücke aus „giallos“ der von Komponisten wie Stelvio Cipriani, Ennio Morricone und Bruno Nicolai zum Einsatz) und Sounddesign sowie in Loops, extremen Close-ups und Split-screens sorgsam arrangierte, übereinandergeschichtete und eher assoziativ komponierte Bilder, die leitmotivisch in den verschiedenen Lebensphasen Anas immer wieder auftauchen, im Mittelpunkt und zielen eher auf das Unbewusste des Zuschauers statt auf dessen Ratio. Auf diese Weise stimuliert fühlt man sich schon nach wenigen Minuten wie in einem wüsten Albtraum gefangen, zumal die Farbdramaturgie und einzelne Objekte, deren symbolische Aufladung und Überhöhung an Fetische erinnern, an die Trugbilder des „Schlafes der Vernunft“ (nach Goyas berühmter Radierung) erinnern.

Auch wenn Amer auf den ersten Blick als „neogiallo“ oder schlichte Hommage erscheint, ist er dies jedoch genau nicht. Vielmehr reflektiert der Film auf subversive Weise die Genreversatzstücke, arrangiert sie neu, entbeint die Storyline auf das Allernotwendigste und wirkt beinahe wie eine Film gewordene Installation eines Filmgenres, das zu eigenen Ideen, Fantasmen und Reflektionen einlädt – ein Genrefilm als offenes Kunstwerk, das hat man in dieser Form kaum jemals zuvor gesehen. Und genau dieses Verständnis von Avantgarde macht diesen Film bei aller Offenheit gegenüber jedweder Art von Interpretationsansatz zugleich zu einem hermetischen Kunstwerk.

Zuletzt ist Amer ein Film, der Lust macht auf mehr – und das gleich in mehrfacher Hinsicht. Zum einen ist man nach dem Ende des Films neugierig, ob und in welcher Form die beiden Regisseure Hélène Cattet und Bruno Forzani bei ihrem nächsten Film ihren Eklektizismus weitertreiben werden. Und zugleich verspürt man das unbändige Verlangen, sich all die alten Giallos wieder einmal anzuschauen und ihren außergewöhnlichen Stil sowie ihre Lust am Abseitigen und an den Abgründen der menschlichen Seele zu bewundern, die das Kino stärker beeinflusst haben, als wir dies gemeinhin annehmen. Viele Filme Brian De Palmas beispielsweise wären ohne die verrückten Experimente von Mario Bava, Sergio Martini und Dario Argento niemals möglich gewesen. Und der Slasherfilm US-amerikanischer Prägung bekennt sich ebenfalls zu der blutroten Traditionslinie, die von Italien direkt in das Herz der amerikanischen Kino-Albträume führt.

Die ungeheure Wirkung von Amer, der hypnotische Sog, der von diesem kleinen Meisterwerk ausgeht, reicht aber viel tiefer. Weil seine beiden Schöpfer virtuos mit Versatzstücken aus einer Seitenlinie der Filmgeschichte spielen – und mit all unseren Ängsten, unseren Albträumen sowie jener unbegreiflichen, mysteriösen und unergründlichen Bildquelle, die wir „Seele“ nennen.

Amer

Auf zahlreichen Festivals weltweit ist „Amer“, der erste Langfilm des kurzfilmerprobten Regieduos Hélène Cattet und Bruno Forzani, bereits gelaufen und hat dank seiner ungewöhnlichen Stilistik und seiner bizarren Bezugsquellen für einiges an Aufmerksamkeit gesorgt.
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