Callgirl

Eine Filmkritik von Joachim Kurz

Doppelleben

Auf den ersten Blick ist Aleksandra (Nina Ivanisin) eine ganz normale junge Frau in Slowenien. Fleißig studiert sie in der Hauptstadt Ljubljana Englisch und bemüht sich, ihrem arbeitslosen Vater (Peter Musevski) in der Provinz nicht allzu sehr auf der Tasche zu liegen – eine Biographie, wie man sie mutmaßlich häufiger in den Ländern des früheren Ostblocks vorfinden dürfte. Ebenfalls häufiger, so scheint es (und das intendiert auch der Original- bzw. der englische Titel des Films von Domjan Kozole), gibt es in Ländern wie diesen eine spezielle Form von Doppelleben. Und solch eine zweite Existenz führt auch Aleksandra: Als „slowenisches Mädchen“ inseriert sie in Zeitungen und bietet ihren Körper an. Klar, dass dieser Nebenverdienst sie bald schon in einen Zwiespalt bringt.
Es beginnt mit einem ganz normalen „Engagement“: Von einem Parlamentarier des Europäischen Parlaments in ein Hotel bestellt, muss sie mit ansehen, wie der reichlich adipöse Mann aufgrund einer Viagra-Überdosierung einen Herzanfall erleidet. Sie verständigt die Rezeption und stiehlt sich ebenso heimlich aus dem Hotel, wie sie dieses betreten hat. Denn Prostituierte wie sie führen in Slowenien ein Schattendasein und müssen stets auf der Hut sein vor der Staatsmacht. Kaum ist sie den misstrauischen Augen des Portiers und der Polizei entronnen, droht ihr schon von anderer Seite Ungemach: Ein scheinbarer Kunde entpuppt sich als brutaler Zuhälter, der die „Freischaffende“ unter seine Fittiche nehmen will – natürlich gegen einen gehörigen Anteil ihrer Einnahmen. Weil die junge Frau anfangs nicht so spurt, wie der Lude sich das erhofft, hängt er sie kurzerhand über den Balkon eines Hochhauses, bis sie in panischer Angst dem Arrangement zustimmt. Doch damit fangen die Probleme für Aleksandra erst richtig an. Denn sie sucht bei ihrem Ex-Lover Grega Schutz vor den Zuhältern und der will sie ganz für sich alleine haben. Zudem setzt ihr die Bank zu, weil sie die Raten für die gerade erworbene Eigentumswohnung nicht mehr bedienen kann. Das fragile Gebilde ihres Doppellebens droht endgültig einzustürzen, als sich ein Kunde als Freund ihres Vaters entpuppt, der von all dem natürlich nichts weiß.

Prostitution als scheinbarer Ausweg aus materieller Not, die Illusion, mit dem stoisch ertragenen Verkauf des eigenen Körpers den gesellschaftlichen und materiellen Aufstieg zu schaffen – dieses Thema kommt anscheinend immer mehr im Bewusstsein der Öffentlichkeit an. Vor kurzem erst hat die polnische Regisseurin Malgoszka Szumowska in ihrem Film Das bessere Leben einen ähnlichen Fall aufgezeigt. Und dass solche Ereignisse keineswegs nur auf die Länder des früheren Ostblocks beschränkt sind, davon erzählt vor ebenfalls nicht allzu langer Zeit Sabine Derflingers überaus sehenswerter Film Tag und Nacht.

Obwohl Callgirl eng bei seiner Hauptfigur bleibt und weitgehend auf spekulative oder gar voyeuristische Bilder verzichtet, spürt man doch in vielen Momenten, dass Kozole, einer der renommiertesten slowenischen Regisseure, neben der persönlichen Leidensgeschichte seiner Protagonistin auch noch (mindestens) eine weitere Geschichte, eine zusätzliche Bedeutungsebene in seinen klaren und in unterkühlten Farben inszenierten Bildern verankert hat: Diese Geschichte handelt von den Veränderungen und den falschen Versprechungen, die der Turbokapitalismus über die Länder des früheren Ostblocks gebracht hat. Das Gefühl, etwas nachholen zu müssen, die Absicherung / Erhöhung des eigenen Status, die bedingungslose Ökonomisierung aller Lebensbereiche hat einen tiefen Graben zwischen den Generationen in Ländern wie Slowenien hinterlassen. Während die einen wie Aleksandras Vater sich ungebraucht fühlen und längst resigniert haben, sind es vor allem die jungen Leute, die bereit sind, für das vermeintlich bessere Leben alles zu tun. Die Folge dieses omnipräsenten Zwiespaltes ist eine Schizophrenie, die tatsächlich nicht mehr anders zu bewerkstelligen ist als mit einem Doppelleben, an dem nicht wenige der Betroffenen früher oder später zerbrechen werden.

Allerdings ist Callgirl nicht an jeder Stelle und bis in jede Verästelung der Story so konsequent in Szene gesetzt, wie man sich dies wünscht – womöglich wollte Kozole, beeindruckt von seinen Recherchen im Milieu der Gelegenheitsprostitution, auch nicht zu viel von der Lebensumständen der Mädchen preisgeben. Dass allerdings zwei Zuhälter, die anfangs so rücksichtslos gegen Aleksandra agieren, dann fast vollständig untertauchen und dementsprechend kaum mehr eine Gefahr für die junge Frau darstellen, untergräbt die Glaubwürdigkeit der Geschichte dann doch ein wenig.

Die eigentliche Entdeckung dieses Films ist aber sowieso Nina Ivanisin, deren Darstellung des widersprüchlichen Charakters von Aleksandra sie eindeutig und nachdrücklich für weitere Rollen ähnlichen Kalibers empfiehlt.

Callgirl

Auf den ersten Blick ist Aleksandra (Nina Ivanisin) eine ganz normale junge Frau in Slowenien. Fleißig studiert sie in der Hauptstadt Ljubljana Englisch und bemüht sich, ihrem arbeitslosen Vater (Peter Musevski) in der Provinz nicht allzu sehr auf der Tasche zu liegen – eine Biographie, wie man sie mutmaßlich häufiger in den Ländern des früheren Ostblocks vorfinden dürfte.
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