Kleinstheim

Eine Filmkritik von Beatrice Behn

Ohne Eltern in der Welt

Irgendwo an der Magdeburger Börde steht die alte Schlossburg Krottdorf. Hier in dieser Burg, einem ganz surreal anmutenden Hintergrund, befindet sich die „AWO-Kleinstheim“. Ein Kleinstheim ist eine geschlossene Wohngruppe für Kinder- und Jugendliche. Im Fachjargon heißt es, diese benötigen eine geschlossene, stationäre Betreuung, da das Leben dieser jungen Menschen und ihre Entwicklung „in der Regel durch die Schwierigkeiten in ihrer Familie und ihrem sozialen Umfeld so stark beeinflusst, dass massive Probleme bei der Lebensbewältigung auftreten.“ Was das bedeutet, zeigen Stefan Kolbe und Chris Wright in ihrem gleichnamigen Dokumentarfilm.
Sarah und Nancy sind Schwester und wohnen beide im Kleinstheim. Ihre leibliche Mutter ist tot, ihr Vater hat eine neue Frau. Sarah erzählt einmal davon, wie sie mit 8 Jahren zur Polizei ging und eine Anzeige gegen ihre Eltern erstattete, die sie schlugen. Viel mehr erfährt man von der Familiengeschichte nicht, doch man kann sie erahnen in den Bilder, den Gesten, den kurzen, angefangenen Sätzen, die fast nie zu Ende gesprochen werden. Man sieht Sarah weinen, wütend sein, ihrem Vater Briefe schreiben. Manchmal ruft er an, dann wieder nicht. Als sie im Krankenhaus ist, kommt er vorbei. Einmal sogar fast eine halbe Stunde lang, freut sich Sarah. Neben Sarah und Nancy gibt es noch fünf weitere Jugendliche. Die Jungs, verpickelt, mitten in der Pubertät sind meist stumm und zurückgezogen. Dann wieder – wie aus dem Nichts – voller Wut und Aggression. Die Mädchen suchen, so scheint es, vor allem Ersatz. Den findet die 16-jährige Peggy in ihrem 33-jährigen Freund. Denkt sie zumindest für eine Weile. Adriano ist auch 16 Jahre alt und hat schon mehrere Entgiftungen hinter sich gebracht. Leider erfolglos, er bleibt weiter Alkoholiker und kifft.

Wright und Kolbe begleiten die Sieben ein ganzes Jahr lang mit der Kamera. Das Leben bewegt sich zwischen Schule und Chat, Liebe und Amt. Es geht um das Ausloten des eigenen Platzes an diesem Ort, in dieser Zeit. In Schulen, Ämtern, auf der Arbeit und im Heim – sei es das erste kleine Liebesglück oder die große Lebensplanung – alle versuchen ihren Weg zu finden. Kein leichtes Unterfangen wenn man ohne Eltern ist und diese einem dazu noch viele Stolpersteine in den Weg gelegt haben. „Der Mensch ist das erste Wesen, dass seinen Weg selbst mitbestimmt, zum Guten wie zum Schlechten“, heißt es einmal. Die Frage, welchen Weg die Kinder wählen, bleibt offen.

Sensationslüstern hätten sie ihren Film aufbauen können, in den Wunden bohren, die Tränen im Bild einfangen. Doch sie haben einen anderen Weg gewählt, der Kleinstheim zu einem Stück großartigen, empathischen und vor allem realen Kino macht. Sie fragen wenig und wenn dann nur ganz sanft, keiner wird gedrängt zu sprechen oder sich zu offenbaren. Die Kinder und Jugendlichen behalten stets ihre Würde, viel mehr ist den meisten auch nicht geblieben. Trotzdem schafft der Film die Abwesenheit der Familie und der Eltern stets einzufangen, denn die Kamera nimmt den leeren Platz ein, den diese Menschen geschaffen haben. Stets beobachtet sie auf Distanz und versucht in der wunderschönen Landschaft rund um das Schloss Bilder für das Unaussprechliche zu finden. Der Film erfühlt auf einer manchmal schmerzhaft viszeralen Ebene das Innenleben seiner ProtagonistInnen, anstatt es einfach nur abzubilden. Kleinstheim ist ein „Fühlfilm“, dessen Stärke vor allem aus dem einen besteht: da sein, hinsehen und aushalten.

Die Dokumentation wird im Rahmen des Achtung Berlin Film Festivals im Wettbewerbsprogramm und bei der Dokumentarfilmwoche Hamburg aufgeführt und war unter anderem bei DOKLeipzig 2010 zu sehen, ein regulärer Kinostart steht aber noch nicht fest.

Kleinstheim

Irgendwo an der Magdeburger Börde steht die alte Schlossburg Krottdorf. Hier in dieser Burg, einem ganz surreal anmutenden Hintergrund, befindet sich die „AWO-Kleinstheim“. Ein Kleinstheim ist eine geschlossene Wohngruppe für Kinder- und Jugendliche.
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