Der Schnee am Kilimandscharo

Eine Filmkritik von Patrick Wellinski

Der Preis der Ideale

Zunächst einmal der irreführende Titel: Kein Schnee. Nirgends! Robert Guédiguians Der Schnee am Kilimandscharo spielt im sonnigen Marseille. Selbst Ernest Hemingways weltbekannte Kurzgeschichte steht nicht Pate für die Handlung, sondern das gleichnamige Chanson von Pascal Danel aus dem Jahr 1966. Es ist das Hochzeitslied von Michel (Jean-Pierre Darroussin) und Marie-Claire (Ariane Ascaride). Während die beiden ihr dreißigjähriges Jubiläum feiern, stimmen Freunde und Familie es noch einmal an. Es ist ein Moment voll Glück, Freude und Harmonie. Und es ist der Brennpunkt dieses Films, der seinem Personal nie wieder diese wortlose Gelassenheit erlauben wird.
Kurz zuvor hat Michel, Gewerkschaftsführer, ein Altlinker, zwanzig Männer seiner Werft entlassen müssen. Eine zufällige Lotterie entschied über die Namen. Auch der von Michel wurde gezogen. Arbeitslos und sichtlich irritiert versucht sich der Frührentner mit seinem neuen Alltag zu arrangieren. Da kommt das Hochzeitstagsgeschenk der Bekannten, eine Schatulle mit Geld und Flugtickets nach Tansania, gerade recht. Doch aus dem Traumurlaub wird nichts, denn Michel und Marie-Claire werden samt Schwägerin und Schwager überfallen, das Geld und die Tickets gestohlen.

Robert Guédiguian erzählt keine Kriminalgeschichte, obwohl der Film das vermuten lässt. Denn bereits in der Szene nach dem Überfall sehen wir, wer ihn verübt hat. Es war ein junger Werftarbeiter, den Michel entlassen musste. Ohne Job und allein mit seinen beiden minderjährigen Brüdern weiß er nicht, wie er die Miete zahlen soll. Die Schuldfrage erscheint damit nicht nur für Michel, sondern auch für den Zuschauer in einem anderen Licht. Welchen Wert haben Recht und Gerechtigkeit, wenn eine Tat verständlich wird? Wenn sie vielleicht sogar mit der eigenen Weltsicht übereinstimmt? In genau jenen moralischen Grauzonen bewegt sich dieser Film unaufhörlich und genau solche erzählerischen Ambivalenzen machen Der Schnee am Kilimandscharo interessant.

Seit gut dreißig Jahren beschäftigt sich Guédiguian mit diesen Fragen und Themen. Seine Geschichten spielen fast immer in seiner Heimatstadt Marseille, häufig dreht er dabei mit den gleichen Darstellern. Es sind anklagende Filme, die ganz direkt in die Wunden der modernen Gesellschaft greifen, die auf Ungerechtigkeiten aufmerksam machen, und letztlich auch danach fragen, ob man sich so etwas wie Ideale noch leisten kann. Der Schnee auf dem Kilimandscharo verhandelt dies im Kostüm eines Melodramas, ohne auf einen gewissen wütenden und rauen Ton zu verzichten, der das ganze Werk von Guédiguian durchzieht.

Der wunderbare Jean-Pierre Darroussin spielt den Michel mit einem leidenschaftlichen Brennen in den Augen, das ihn auf ewig als Kind des Klassenkampfes kennzeichnet. In einer denkwürdigen Szene steht er auf seinem Balkon und winkt einem jungen, unbekannten Paar zu. Daraufhin fragt er seine Frau, was der junge Michel und die junge Marie-Claire zu ihnen heute sagen würden. „Bourgeois“, antwortet Marie-Claire. Und das trifft das Dilemma der Hauptfigur. Es ist auch das Dilemma von Lebensentwürfen im Wandel der Zeit. Wie links ist man noch, wenn einem das eigene Haus und die sonntäglichen Strandausflüge mit den Enkeln wichtiger sind, als der Alltag der Kameraden vom Hafen? Oder anders gefragt: Einmal Klassenkämpfer, immer Klassenkämpfer? Das Drehbuch spielt diese Konflikte sehr komplex und in verschiedenen Facetten durch, ohne dabei einfache Antworten zu geben oder allzu plakative Utopien zu entwerfen. Das unterscheidet ihn auch wohltuend von Cédric Klapischs Mein Stück vom Kuchen, der ähnlich sozialkritische Töne anschlug, aber außer einem müden „Empört euch!“ wenig zu sagen hatte. Im Vergleich erscheint Guédiguians Feinfühligkeit wesentlich passender.

Der Schnee am Kilimandscharo ist übrigens nicht nur durch das oben genannte Chanson inspiriert, sondern basiert auch auf dem Gedicht Die armen Leute von Victor Hugo. Zwar ersetzt Guédiguians Inszenierung Hugos poetische Subtilität häufig durch das politische Argument, es bleibt aber ein von Grund auf ehrlicher Film, den man für seine stille und grüblerische Art bewundert. Wie könnte man auch anders gegenüber einer Geschichte empfinden, die so aufrichtig von nostalgischen Idealen, zwischenmenschlicher Solidarität, unerschütterlichen Werten und — ja — auch von einer gerechteren Welt träumt.

Der Schnee am Kilimandscharo

Zunächst einmal der irreführende Titel: Kein Schnee. Nirgends! Robert Guédiguians „Der Schnee am Kilimandscharo“ spielt im sonnigen Marseille. Selbst Ernest Hemingways weltbekannte Kurzgeschichte steht nicht Pate für die Handlung, sondern das gleichnamige Chanson von Pascal Danel aus dem Jahr 1966. Es ist das Hochzeitslied von Michel (Jean-Pierre Darroussin) und Marie-Claire (Ariane Ascaride).
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Meinungen

Daniela · 02.05.2015

Ich habe diesen Film gerade angeschaut und er hat mich tief, sehr tief bewegt...ein wunderbarer Film, der genau den Nerv der Gesellschaft trifft. Man findet sich wieder und seine Mitmenschen...in welcher Rolle auch immer...für mich die bewegendste Szene, als die beiden Hauptfiguren unabhängig voneinander zu einer gewissen sozialen Einsicht gelangen und dies gerade voneinander erfahren...ein wundervoller Moment!

J-L Marie · 02.02.2012

Gute Kritik, stimme ich auch zu , macht auch Lust den Film zu sehen. Gemeint ist sicher der Roman von Hugo "Die armen Leute"/"Les Miserables". Gruss
J-L