Simon

Eine Filmkritik von Stephan Langer

Wenn es etwas zu lernen gibt, dann Familiengeschichte

Jeder Krieg hinterlässt immer für alle irgendwie daran Beteiligten einen langen Schatten. Dieser Schatten besteht aus Verwirrung, Unverständlichem und Unausgesprochenem, Verschlungenem, Verdrängtem, Scham und Schuld. Meistens erstreckt er sich über viele nachfolgende Generationen hinweg, wie eine Art dunkler Faden, der sich quer und stumm durch Familien schlängelt, dem man sich leider allzu oft nicht hinreichend widmet, durch offene Gespräche zum Beispiel. Solche dunklen Kriegsfamilienfäden sind das verbindende Element zweier Familienschicksale in Simon, dem dritten Spielfilm der schwedischen Film- und Fernsehregisseurin Lisa Ohlin.
Simon ist eine Romanverfilmung. Die im Deutschen gleichnamige Buchvorlage stammt von Marianne Fredriksson, wurde zum Bestseller und weltweit in 25 Sprachen übersetzt. Es ist die mehr als ein Jahrzehnt umspannende Geschichte von Simon Larsson (jung: Jonatan S. Wächter / erwachsen: Bill Skarsgård), der in idyllischen Verhältnissen in der Nähe von Göteborg aufwächst. Simon ist ein introvertierter Bücherwurm, der sich in einer riesigen, alten Eiche sitzend in eigene Traumwelten flüchtet, ein Verhalten, das sein Vater Erik (Stefan Gödicke), ein prinzipientreuer und bodenständiger Arbeiter, weder nachvollziehen noch gutheißen kann. Seine Mutter Karin (Helen Sjöholm) unterstützt ihren Jungen, er geht schließlich auf die höhere Schule in der Stadt, wo er Isak (jung: Karl Martin Eriksson / erwachsen: Karl Linnertorp) kennen lernt, den Sohn des reichen, aus Berlin geflohenen jüdischen Buchhändlers Ruben Lentov (Jan Josef Liefers). Durch die enge Freundschaft zu Isak verflechten sich vor dem Hintergrund des aufziehenden zweiten Weltkriegs die Schicksale der gegensätzlichen Lebenswelten der beiden Familien. Simon entfremdet sich zusehends von seinem Vater, fühlt sich emotional viel eher bei Isaks Vater zu Hause. Als er dann ein viel zu lange gehütetes Geheimnis erfährt, droht seine Welt aus den Fugen zu geraten und seine Familie zu zerbrechen.

Beim Stichwort Romanverfilmung raufen sich viele Drehbuchautorinnen und -autoren zurecht verzweifelt die Haare, ist es doch alles andere als einfach, eine komplexe, epische Handlung wie die von Simon in das begrenzte Zeitschema eines Spielfilms zu pressen. Ohlin assistierte Drehbuchschreiberin Marnie Blok, bis die 18. (!) Version des Drehbuchs es dann sein sollte: der Dreh konnte beginnen. Ausgesprochen routiniert und stilsicher glückt Ohlin das Verweben verschiedener Zeitebenen der Geschichte. Darüber hinaus bleibt einem der Film akustisch und visuell im Gedächtnis. Wirkt die Filmmusik von Komponistin Annette Focks (unter anderem zeigt sie sich verantwortlich für die formidable Musik in Chris Kraus’ Vier Minuten) am Anfang noch eine Spur zu rührselig, erweist sie sich mit zunehmender Entfaltung tragischer Tragweiten der Geschichte als passend. Im Wechsel zwischen Klassik und Moderne unterstützt die Musik die eindringliche Spannung der Handlung und die vom natürlichen Licht Südschwedens getragenen Bilder des Kameramanns Dan Laustsen. Close-ups mit minutiösem Mienenspiel, bei dem das Licht die Augen der Spielenden offen legt, wechseln mit sehr eleganten, malerisch-stimmungsvollen Landschaftsbildern. Die ruhige Ästhetik der Kamera, fast an der Grenze zur Statik, lenkt den Blick zielsicher auf kleine Einzelheiten.

Eine weitere Schwierigkeit beim Übersetzen von Buch zu Film: wie bebildert man die psychologische Innenwelt eines Charakters, in unserem Fall Simon? In Fredrikssons Buch ist es ein kleiner Mann, der zu ihm spricht, was im Film offensichtlich nicht funktioniert hätte. Ohlins Idee einer visuellen Metapher ist also der „Schichtenlook“, wie sie es nennt: es wird digital gedreht, wodurch sich die Sequenzen von vornherein durch eine andere Stimmung auszeichnen als der Rest des Films. Mehrere Bilder sind in diesen Sequenzen also übereinander geschichtet, es wird viel überblendet, wir sehen Detailaufnahmen von Ästen, Blättern, Wasser und Wolken. Durch das dabei oft sehr grelle Licht wirkt Simons innere Welt traumartig und schwer greifbar. In diesen immer wieder eingestreuten Naturcollagen erweist sich die kreative Zusammenarbeit zwischen Regisseurin Ohlin und Kameramann Laustsen als äußerst gewinnbringend.

Kommen wir zu den Schauspielern in Simon, besser gesagt vorrangig zu einem Schauspieler: klar herausragend aus einem insgesamt überzeugend aufspielenden Ensemble ist Jan Josef Liefers. Das ist nicht nur der Fall wegen seiner gut gearbeiteten und überaus geschmackvoll gewählten Anzüge. Liefers machte sich einige Mühe: Für die Rolle des Ruben Lentov lernte Liefers extra Schwedisch und wurde für sein Spiel zurecht mit dem schwedischen Filmpreis als bester Nebendarsteller ausgezeichnet. Sein Lentov ist ganz der legere Bourgeois, der sich (wie alle anderen Charaktere des Films auch) seiner Herkunft nicht entledigen kann. Er ist innerlich aus dem Gleichgewicht geraten, bemüht sich jedoch immerfort um seiner Klasse angemessene Würde und Haltung, auch angesichts einer traumatisierten Ehefrau, einem verängstigten Sohn und der drohenden Gefahr der Verfolgung durch die Nazis. Zunehmend wird er zu Simons Mentor, besucht mit ihm klassische Konzerte, führt Gespräche mit ihm. Abgesehen davon allerdings steht er mehr und mehr alleine da. Das Zuschauen bei den Bemühungen, Freundschaft und Nähe zu Simons Familie aufzubauen, die ihn aber immer wieder zurückweist, das berührt einen unmittelbar.

Ohlin ist mit Simon ein emotional komplexes Familienepos geglückt, das dem Zuschauer das Politische auf privater Ebene näher bringt. Der von Deutschen verursachte Krieg mit seinen einzelnen Familienschicksalen wird im Film durch die gebrochene Perspektive aus einem anderen Land anders beleuchtet. Ohlins Verbundenheit zu dieser Geschichte und diesem Film rührt aus persönlicher Erfahrung: die Familie ihrer Mutter floh 1939 aus Berlin nach New York, im weiteren Verlauf ihres Lebens wurde in ihrer Familie ähnlich wenig über Vergangenes gesprochen wie in Simon. Geben wir Simon zum Abschluss das Wort. An einer Stelle doziert er altklug als junger Student im Film: „Wenn es etwas zu lernen gibt, dann Geschichte.“ Darauf aufbauend und es präzisierend, muss das Fazit im Falle dieses Films lauten: Wenn es etwas zu lernen gibt, dann Familiengeschichte.

Simon

Jeder Krieg hinterlässt immer für alle irgendwie daran Beteiligten einen langen Schatten. Dieser Schatten besteht aus Verwirrung, Unverständlichem und Unausgesprochenem, Verschlungenem, Verdrängtem, Scham und Schuld. Meistens erstreckt er sich über viele nachfolgende Generationen hinweg, wie eine Art dunkler Faden, der sich quer und stumm durch Familien schlängelt, dem man sich leider allzu oft nicht hinreichend widmet, durch offene Gespräche zum Beispiel.
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Meinungen

Joanna Münchow · 14.07.2012

Ein wunderbarer Film, der die Seele berührt. Absolut sehenswert!

Joanna Münchow · 14.07.2012

Ein wunderbarer Film, der die Seele berührt!

Simone Müll · 30.06.2012

Klasse Story! Darsteller der Extraklasse! Helen Sjöhölm ist einfach Traumhaft.