Die Summe meiner einzelnen Teile

Eine Filmkritik von Holger Lodahl

Geschichte eines Fallenden

Martin hält einen Brief in den Händen und scheint kaum glauben zu können, was er liest. In deutscher Gründlichkeit erfährt er nun schriftlich den Wert der Summe seiner einzelnen Teile. Mehr als 3500 Euro nämlich. Soviel Geld soll er an das Amt zahlen, sonst droht ihm die Pfändung. An dieser Stelle gibt Martin auf und bemüht sich nicht mehr um einen Weg zurück ins bürgerliche Leben. Der Film Die Summe meiner einzelnen Teile zeigt von dieser Szene an den schier bodenlosen Fall des ehemals erfolgreichen Mathematikers Martin.
Schon lange vor dem Pfändungsbescheid lief es für Martin gar nicht gut. Nach einem Zusammenbruch wurde er in einer Psychiatrie behandelt. Anfangs ist er wieder guten Mutes und möchte zurück in die Gesellschaft. Eine einfache Chance bekommt er nicht. Sein Chef stellt ihn nicht mehr ein und seine ehemalige Verlobte Petra hat bereits einen neuen Mann. Martin kann den Gerichtsvollzieher nicht bezahlen, verliert seine Sozialwohnung und landet auf der Straße. Als Obdachloser geht er durch das kalte Berlin, schläft in Abrissbauten zwischen Abfall und Bauschutt. Er entwickelt autistische Charakterzüge und nimmt seine Umwelt zunehmend verzerrt wahr.

Regisseur Hans Weingartner (Die fetten Jahre sind vorbei, 2005; Das weiße Rauschen, 2002) inszeniert seine Hauptfigur als Opfer der Gesellschaft. Besonders deutlich wird dies in der Szene, in der Martin betrunken über die Straße wankt und von einem Auto angefahren wird. Der Fahrer, ein überheblicher Geschäftsmann, schleppt ihn schimpfend an den Straßenrand, um ihn dort liegen zu lassen. Deutlicher kann man soziale Kälte kaum darstellen.

Als er den herumstreunenden Jungen Viktor vor einer Horde prügelnder Rowdys rettet, geht es mit Martins Seelenleben leicht bergauf. Trotz der Sprachbarriere zwischen dem zehnjährigen Ukrainer und Martin wächst zwischen den beiden eine Freundschaft. Oder ist es Abhängigkeit? So wie Martin den Jungen vor Übergriffen schützt, zeigt Viktor, wie sie mit Flaschensammeln Geld verdienen können. Die beiden Heimatlosen brauchen einander. Hilfe von anderen bekommen sie nicht. Als sogar Martins Vater seinen Sohn bei der Klinik verrät, fliehen sie und bauen sich im Wald eine Hütte.

Der Film Die Summe meiner einzelnen Teile führt Martin bis zu diesen Szenen auf direktem Weg aus der Gesellschaft heraus. Der Zuschauer weiß: Ein Obdachloser mit einem Jungen im Wald, das kann nicht gutgehen. Doch bevor die Behörden Wind vom Leben der beiden Waldbewohner bekommen, findet Martin beim Flaschensammeln einige Fotos. Die abgebildete junge Lena erinnert Martin an seine Vergangenheit und er erkennt, dass ihm sein Leben entglitten ist.

Aber nicht Lena bringt Martin endgültig um den Verstand. Es ist die Angst um Viktor, der verschwindet, nachdem Behörden die Waldhütte zerstören und Martin in die Psychiatrie einliefern. Dort stellt die Ärztin die Existenz Viktors infrage und behauptet, der Junge sei ein Konstrukt in Martins Fantasie.

Damit gewinnt Die Summe meiner einzelnen Teile an Dynamik. Martin flieht aus der Klinik und geht auf die Suche nach Viktor. Dass er bei seiner Suche zu Waffengewalt greift, wird sein endgültiges Aus bedeuten. Ob Viktor hingegen tatsächlich existiert oder symbolisch für Martins fortschreitenden Wahnsinn ist, lässt Regisseur Weingarten offen. Das Drehbuch liefert Hinweise auf beide Möglichkeiten.

Die Summe meiner einzelnen Teile beeindruckt mit der Härte, mit der Martins Niedergang inszeniert ist. Weingarten zeigt Martins Seelenzustand durch die graublauen und eiskalt wirkenden Bilder zum einen und den Einsatz von Ton zum anderen. Während im ersten Teil des Filmes ohrenbetäubender Stadtlärm dominiert, unterstreichen Gitarrenklänge Martins neu gewonnene Freiheit im Wald.

Zu spät in die Handlung eingeführt ist die Figur der Lena, Besitzerin der Fotos. Weingarten hätte die spannende Beziehung zwischen Martin und Viktor noch dichter darstellen können, hätte er auf Lena verzichtet oder ihr mehr Raum gegeben. Nun jedoch ist Lena weder Störenfried noch Friedensstifterin.

Was Die Summe meiner einzelnen Teile jedoch lange nachwirken lässt, ist das grandiose Spiel von Peter Schneider. Der Akteur gibt sich der Rolle des Obdachlosen schonungslos hin, so dass man als Zuschauer die Kämpfe Martins selbst zu führen scheint. Schneider, ein viel beschäftigter Theaterschauspieler, ist bislang vor allem durch Nebenrollen in Filmen wie Berlin Calling und Der Baader Meinhof Komplex nur aufmerksamen Kinobesuchern bekannt. In Die Summe meiner einzelnen Teile ist er in jeder Szene zu sehen und zeigt den Zuschauern die kaputte Seele eines Mannes, der nicht mehr in die Gesellschaft zurückfindet.

Die Summe meiner einzelnen Teile

Martin hält einen Brief in den Händen und scheint kaum glauben zu können, was er liest. In deutscher Gründlichkeit erfährt er nun schriftlich den Wert der Summe seiner einzelnen Teile. Mehr als 3500 Euro nämlich. Soviel Geld soll er an das Amt zahlen, sonst droht ihm die Pfändung.
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Meinungen

Gjl4711 · 31.03.2014

Sehr gute Kritik, genau so habe ich diesen Film erfahren. Weil er ist eine Erfahrung!

wignanek-hp · 18.10.2012

Ein Film, der einen nicht so schnell loslässt. Man hofft inständig, dass die Gesellschaft nicht so hart sein wird, wie man befürchtet. Aber in ihr gibt es keinen Platz für Menschen, die nicht funktionieren. Und wenn sie sich dann auch noch weigern, ihr Anderssein als Krankheit zu akzeptieren und versuchen, für sich eine Nische zu finden, wird es besonders schlimm. Schade dass Weingartner seinem Helden nur auf der DVD im alternativen Schluss ein Happy-End schenkt. Das wäre nach der Härte, die der Film vermittelt, wenigsten ein kleines Trostpflaster gewesen.

Veritas · 25.09.2012

Der Film ist bedrückend echt insziniert. Es gibt nichts daran auszusetzen ausser das das die Story nicht genug für einen großen Erfolg hergibt würde ich meinen. Es wird deutlich wie ein Mensch wenn er sein Leben nicht mehr im Griff hat von der Gesellschaft abgestoßen wird, welche ziemlich schnell keine Fragen mehr nach Gründen stellt und jegliche Rücksicht über den Haufen zu werfen scheint. Das Fazit lautet dann wohl wer als Erwachsener noch ernsthaft psychische Störungen erleidet wird wahrscheinlich von der Gesellschaft entgültig zerstört. Interessantes Thema das natürlich bei vielen auf Ablehnung stößt da viele Menschen wohl die Hauptfigur in der Realität so behandeln würden wie im Film dargestellt.
PS:Manch einer dürfte den Streifen deswegen wohl schwer ertragen können und ist vieleicht geneigt aus Unsicherheit etwas niveaulos zu kommentieren.

maier · 19.02.2012

der letzte film. so ein scheiß

Iris Kollmann · 08.02.2012

Schade. Hatte mich sehr auf den Film gefreut. Aber leider ist er vorhersehbar und einfach nur fad. Hat mir mit Ausnahme ein paar "verrückter" Szenen, die man aber von irgendwo schon zu kennen meint, überhaupt nicht gefallen.

abhijay · 04.02.2012

beeindruckend, wie man spürt, wie es wohl sein muss, "verrückt zu werden"/zu sein. sehr berührend, ein film der nachwirkt. sehr gut!

Knolle · 29.01.2012

Bedrückende, realitätsnahe Darstellung einer Rutschbahn, die zum unteren Ende unserer Gesellschaft führt. Ein Mix aus Phantasie und Realität, der bewusst Raum für Deutung und Interpretation lässt, inklusive Entstehung und Zerstörung einer Oase jenseits des produktiven Räderwerks. Filmisch perfekte Inszenierung mit hervorragenden Darstellern.