Die Kinder vom Napf

Eine Filmkritik von Stephan Langer

Heile Welt hoch oben

Das alte, einfache Leben, ein Leben wie aus einer anderen Zeit, das gibt es noch. Dazu muss man auch gar nicht bis nach Rumänien oder Bulgarien fahren. In den Alpen nämlich, genauer: in der Biosphäre Entlebuch, im Herzen der Schweiz, zwischen den Kantonen Bern und Luzern, liegt der Napf, ein Berg, den man nur zu Fuß erreichen kann. Er ist idyllischer Schauplatz in Alice Schmids neuer Dokumentation Die Kinder vom Napf. Ein Jahr lang hat die Regisseurin die Kinder der dortigen Bergregion mit der Kamera begleitet, von Anfang Winter bis Ende Herbst, vom Guetslibacken im Advent über die Geburt eines Kalbes im Frühling hin zur Mäusejagd im Sommer bis zum ersten Schnee im folgenden Herbst. Eingerahmt vom Rhythmus der Jahreszeiten leben die Eltern der Kinder hoch oben im zerklüfteten Gebirge als Bergbauern. Sie züchten Hühner, Schafe und Kühe, betreiben ein wenig Ackerbau und leben von dem, was die Landschaft ihnen bietet. Nebenbei produzieren sie ein wenig Holzkohle – die letzten Köhler der Schweiz.
Der Film beginnt atmosphärisch mit dunklen Winterbildern, die die Kinder frühmorgens im Lichtkegel ihrer Kopflampen durch den Schnee stapfend zeigen. Sie sind auf dem Weg zur Seilbahn, die sie ins Tal fährt, wo sie alle gemeinsam zur Schule gehen. Die Protagonisten des Films sind einzig die Kinder und ihr ungewöhnliches Leben hoch oben auf den Höfen ihrer Eltern. Auf einen weiteren Kommentar wird verzichtet, Erwachsene kommen nur ganz am Rande mal zu Wort. Es ist also eine Dokumentation über Kinder für Kinder, die diesem Umstand gemäß bei der letzten Berlinale als Eröffnungsfilm der Kinderfilmsektion lief. Regisseurin Schmid kennt sich aus mit Kindern, hat sie doch schon zahlreiche Filme gemacht, die oft tragische Kinderschicksale in aller Welt zeigen: mal geht es um Kindesmissbrauch (Sag nein, 1993), ein anderes Mal um Kinder im verminten Kambodscha (Letters to Grown-ups, 1994), dann wiederum fokussiert sie sich auf Kindersoldaten in Liberia (I Killed People, 2000). Vielleicht wollte sie dieses Mal einfach einen Film machen, der den Zuschauer auf eine positive und anheimelnde Weise berührt. Es muss ja nicht immer existenzielle Dramatik sein, die einen entweder betroffen oder wütend oder auch beides zugleich macht.

Genau das soll Die Kinder vom Napf wohl leisten, nämlich die heimelige Schilderung von verschiedenen Kindheiten auf dem Land, das alles in einem sehr abgelegenen, traditionsbewussten und geborgenen Umfeld. Das leistet der Film auch, nur die Art und Weise, wie er es leistet, ist an mancher Stelle eher zweifelhaft. Zuerst einmal sind die beiden Säulen, auf denen der Film basiert, die Kinder und die Berge. Die Kinder dieser Bergbauernfamilien sind ein dankbares Thema: sie sind einerseits erfrischend, herzlich und originell, darüber hinaus bündelt sich in den kleinen Protagonisten die Kollision von archaischen Lebenswelten und moderner Gesellschaft. Für die Kinder ist die Schule der einzige Ort, an dem sie Kontakt haben zu aktuellen gesellschaftlichen Fragen und Problemen. Dort wird zum Beispiel auch schon mal die sinkende Geburtenrate der Region thematisiert, was eine Abnahme der Klassenstärke zur Folge hat oder das Weggehen der jungen Erwachsenen von diesem Ort. Schade ist, dass der Film sich nicht wirklich für das Leben der Kinder zu interessieren scheint. Der Blick ins Schulzimmer, ins häusliche und dörfliche Leben bleibt flüchtig und fragmentarisch. Ganz oberflächlich also und ohne ersichtliche Dramaturgie folgen Anekdoten und Kommentare der Kinder hintereinander, fast so, als würde man ziellos in einem Fotoalbum blättern. Das kann natürlich Spaß machen, aber viel Hintergründiges über das Abgebildete erfährt man dabei nicht.

Neben den Kindern ist die zweite dankbare Säule von Die Kinder vom Napf die imposante Bergwelt des Entlebuchs, die Schmid elegant in Szene setzt. Hier ist die Natur noch verwunschen und hat eine ganz andere, mitunter auch gefährliche Gewalt, als Städter das gewohnt sind. Hier reißt der Wolf noch die Schafe, wenn man sie nicht über Nacht in den Stall holt. Hier stiehlt der Habicht noch die Hühner. Die begleitende Tonspur (verantwortlich: Daniel Almada) tut atmosphärisch ein Übriges: unheimliches Geheul und dunkles Grollen ertönen, sobald die Sprache auf den Wolf kommt und sich der Ansatz von Wolken über die Gipfel schiebt. Darüber hinaus hört man den Schnee knirschen, die Kühe schmatzen, den Wind heulen. Hier soll anscheinend auf Teufel komm raus mit Hilfe des Scores künstlich eine Stimmung geschaffen werden. Beim Schauen des Films wirkt das Zusammenspiel von Bild und Ton zunehmend wie sich leicht anbiederndes Werbematerial für diese schöne Schweizer Bergregion und das idyllische Leben dort.

Bei allem malerischen Charme und gewollter, idyllisierender Bebilderung wird nebenbei ganz vergessen, dass ein solches Bauernleben in den Bergen enorm entbehrungsreich ist. Die Kinder haben im Familiengefüge natürlich keine Wahl, sie müssen auf dem elterlichen Hof helfen. Auch wenn sie irgendetwas, dass sie in der Schule gelernt haben, vielleicht viel mehr interessiert. Wie sieht man aber die Kinder im Film? So: Der Nachwuchs weiß, wo sein Platz ist, hilft fröhlich bei der Landwirtschaft, lernt eifrig Instrumente und ist artig im Unterricht. Und wenn man sich mal draußen verlaufen hat, hilft nach alter Väter Sitte der liebe Gott oder der Aberglaube. Leider werden an keiner Stelle Themen illustriert wie Religionsdruck, herrschender Konservativismus oder wie der rigide, unausgesprochene Gruppenzwang namens Tradition. Der Blick ins häusliche und dörfliche Leben der Kinder vom Napf ist etwas einseitig geraten. Das unkommentierte Anschauen einer volkstümelnden Weihnachtsmesse samt goldigem Akkordeonintermezzo verrät dem Zuschauer recht wenig. Ebenso liefern Aussagen wie „Wenn ich das neue Jahr regieren könnt‘, würd‘ ich es immer schneien lassen oder vielleicht ein Red Bull trinken oder alles Gott überlassen,“ so gut wie keinen Einblick ins Innenleben der Kinder.

Die Kinder vom Napf schaut 90 Minuten einfach nur zu. Ganz wie ein junges, nach Erfahrung dürstendes Kind. Das mag man bei einem Film über Kinder konsequent finden, jedoch hat all das naive Gestaune leider kein Ziel. Der Film mäandert vor sich hin und hinterlässt Leerstellen. Das Interessante an diesen Leerstellen ist nun, dass sie von jedem Zuschauer ganz einfach gefüllt werden können mit eigenen Vorstellungen vom romantischen, abgeschiedenen, vom scheinbar so echten Leben. Das übertüncht aber am Ende den Film selbst. Die Kinder vom Napf zelebriert einen sehnsüchtigen Blick zurück auf das gute alte, das bessere Leben. Doch unkritisch in vergangene Wert- und Lebensmodelle zu flüchten ist doch auch keine gerade reizende Alternative. Idyllen sind zweifelsohne wichtig, doch sollte es bei der Form des Dokumentarfilms nicht um die Konstruktion von Märchenwelten gehen, sondern um eine kritische Analyse des Gezeigten. Auf diese Weise kann man dann voranschreiten in neue, zeitgemäßere Idyllen.

Die Kinder vom Napf

Das alte, einfache Leben, ein Leben wie aus einer anderen Zeit, das gibt es noch. Dazu muss man auch gar nicht bis nach Rumänien oder Bulgarien fahren. In den Alpen nämlich, genauer: in der Biosphäre Entlebuch, im Herzen der Schweiz, zwischen den Kantonen Bern und Luzern, liegt der Napf, ein Berg, den man nur zu Fuß erreichen kann. Er ist idyllischer Schauplatz in Alice Schmids neuer Dokumentation „Die Kinder vom Napf“.
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