Lawinen der Erinnerung

Niemals vergessen

Mit Erinnerungen ist es so eine Sache. Manchmal, sagt Regisseur Dominik Graf in seinem Filmessay, sind sie hinter Schleusen aufgestaut und brechen über einen herein wie Lawinen. Und manchmal fließt das Rinnsal dünn über das trockengelegte Flussufer. Das ist der Ton von Lawinen der Erinnerung. Denn das Erinnern und der Rückgriff auf die deutsche Vergangenheit bestimmten das bewegte Leben des Autors, Produzenten und Filmemachers Oliver Storz, dessen Leben Graf in seinem sehr persönlichen Porträt nachskizziert.
Storz‘ Lebensthema war das Erinnern an den Nationalsozialismus. Er selbst wurde noch während des Zweiten Weltkrieges eingezogen. Eine Erfahrung, die seine ganze Arbeit prägen sollte. Nach dem Krieg kam Storz, der bei der Stuttgarter Zeitung als Feuilletonredakteur und Theaterkritiker arbeitete, zum Fernsehen. Ein Medium, das er selber nicht schätzte und doch entscheidend prägen sollte. Seine Fernsehspiele loteten über mehr als drei Jahrzehnte konsequent die Grenzen des Mediums aus, ohne sich ästhetisch oder thematisch einem Massengeschmack zu unterwerfen. Kritische und hochgelobte Fernsehspiele wie Der Schlaf der Gerechten (1962), Jeanne oder die Lerche (1966), Drei Tage im April (1994) oder Gegen Ende der Nacht (1998) wurden zu seinem Markenzeichen. Es waren Filme, die wider das Vergessen arbeiteten, die das Publikum in den verschiedenen turbulenten Phasen der Nachkriegszeit an das Chaos und Verderben Hitler-Deutschlands erinnern sollten.

So viel zur Person und zum Schaffen. Nun zum Film. Dominik Graf ist es gelungen, mit Storz noch kurz vor seinem Tod zu sprechen. Doch das sehr intelligent und entspannt geführte Interview ist nur ein Teil von Lawinen der Erinnerung. Graf nutzt zudem Archivaufnahmen, Fotos, Off-Text, liest aus Storz‘ Roman Die Freibadclique, inszeniert kleine Spielfilmszenen und verwebt klug ausgesuchte Filmausschnitte zu einem dichten Bilderteppich. Schön sind jene Momente, in denen er Storz darum bittet, seine Erinnerungen an bestimmte Orte aufzuzeichnen. Dann zeigt Graf im Splitscreen, wie zum einen der Stift über das Blatt kritzelt und zum anderen, wie Storz seine Zeichnung gleichzeitig kommentiert. Wir sehen sowohl das Muster der Erinnerung als auch den Erinnernden selbst. Genrefilmer, der er nun mal ist, inszeniert Dominik Graf diese Spurensuche, dieses Erinnerungskino, auch mit den Mitteln des Detektivfilms.

Ganz selbstverständlich etabliert er die Doppelgängerfigur W.G. Larsen. Das war das Pseudonym unter dem Storz die Trash-Serie Raumpatrouille Orion mitentwickelte. Diese würde der Mann im Interview natürlich am liebsten aus seinem Lebenslauf streichen. Doch für Graf ist das bereits ein Akt der Verdrängung, der auf einen anderen Charakterzug seines Protagonisten schließen lässt — an manche Dinge erinnert man sich nicht gerne. Dann kann es passieren, dass wir Taten und Geschehnisse anderen zuschreiben und unser eigenes Handeln verleugnen.

Lawinen der Erinnerung verschränkt Lebensgeschichte, deutsche Geschichte und auch Fernsehgeschichte miteinander. Gerade letzteres porträtiert Graf sehr engagiert. Was nicht weiter wundert. Denn wer, wenn nicht Dominik Graf, der mit seinen eigenen Regiearbeiten fürs deutsche Fernsehen die ästhetischen Traditionen eines Oliver Storz am konsequentesten weiterentwickelt hat, könnte dessen Bedeutung besser deutlich machen. Die gut ausgewählten Ausschnitte aus Storz‘ Filmen gewähren mit Grafs analytisch leidenschaftlichem Kommentar wunderbare Einblicke in vergessene Fernsehprojekte, die sich Freiheiten gönnten, von denen man heute nur träumen kann.

Doch am Ende ist dies ein Film über Oliver Storz. Der sich im Interview mit Dominik Graf keinen falschen Illusionen hingibt. Er warnt vor der Romantisierung des Nationalsozialismus, die er durch Comics und Filme längst weit vorangeschritten sieht. In letzter Konsequenz führt das Romantisieren nämlich zum Vergessen. Seine Arbeit, ob in Literatur oder im Fernsehen, sollte diese Gefahr stets aufzeigen, sollte warnen. Wie sagt Regisseur Graf in seinem grandios formulierten Off-Kommentar einmal: „Desillusion ist wichtig. Nur sie kann befreien.“

(Patrick Wellinski)

Lawinen der Erinnerung wurde im Rahmen der Berlinale 2012 uraufgeführt und wird am Mittwoch, den 19. September 2012, um

Lawinen der Erinnerung

Mit Erinnerungen ist es so eine Sache. Manchmal, sagt Regisseur Dominik Graf in seinem Filmessay, sind sie hinter Schleusen aufgestaut und brechen über einen herein wie Lawinen. Und manchmal fließt das Rinnsal dünn über das trockengelegte Flussufer. Das ist der Ton von „Lawinen der Erinnerung“. Denn das Erinnern und der Rückgriff auf die deutsche Vergangenheit bestimmten das bewegte Leben des Autors, Produzenten und Filmemachers Oliver Storz, dessen Leben Graf in seinem sehr persönlichen Porträt nachskizziert.
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