Mitternachtskinder

Eine Filmkritik von Claire Horst

Die Bürde eines "Jahrhundertromans"

Eigentlich klappt es fast nie: Nur selten sind Romanverfilmungen so gut wie die Vorlage. Im Fall von Mitternachtskinder ist die Anforderung besonders hoch: Der 1981 erschienene Roman des britischen Autors Salman Rushdie gilt nicht nur als Jahrhundertroman, als Prototyp der postkolonialen Literatur, sondern hat auch stilistisch neue Maßstäbe gesetzt. Neben vielen anderen Preisen wurde er auch mit dem Booker of Bookers ausgezeichnet, dem „best of“ aller Booker-Preise.
Der erste Versuch, die Mitternachtskinder zu verfilmen, scheiterte allerdings nicht aus künstlerischen, sondern aus politischen Gründen: Aufgrund von Protesten aus der muslimischen Community zog die BBC ihre Planungen für eine Mini-Serie zurück. Auch die indisch-kanadische Regisseurin Deepa Mehta kennt solche Angriffe: Für ihre Elemente-Trilogie Fire, Earth, Water wurde sie von fundamentalistischen Hindus attackiert – Water wurde bis heute nicht in Indien gezeigt. Indien kam als Drehort daher nicht in Frage. Aus ähnlichen Gründen fiel Pakistan, der zweite Handlungsort, aus: Dort ist Salman Rushdie, Autor der Romanvorlage und des Drehbuchs, aber auch der Satanischen Verse, ein unerwünschter Gast.

Daher wich Deepa Mehta auf Sri Lanka aus, wo viele Drehorte nachgebaut werden mussten. Und davon gibt es nicht wenige in diesem überbordenden Werk, das sich über ein ganzes Jahrhundert hinzieht: Drei Kriege, 64 Drehorte und 127 Sprechrollen hat die Regisseurin gezählt. Neben den Sprechrollen, Kindern und Schlangen habe sie eigentlich auch Kakerlaken unterbringen wollen, scherzt sie, doch der Kakerlakendompteur habe versagt. Schade – denn streckenweise wirkt der Film sehr aseptisch. Selbst der Slum, in dem die Protagonisten einige Jahre lang wohnen, ist sauber und aufgeräumt, die Straßen wirken so leer, dass kaum noch etwas an Rushdies Indien erinnert. Denn das zeichnete sich durch Stimmenvielfalt und ein Wirrwarr von Eindrücken aus.

Aber worum geht es denn nun in diesem Film? Das ist nicht leicht zu erzählen, denn Rushdie erzählt parallel die moderne Geschichte Indiens und die Lebensgeschichte seiner Hauptfigur Saleem Sinai, der exakt genauso alt ist wie die indische Republik. Geboren 1947, in genau der Sekunde, als Indien die Unabhängigkeit von der britischen Besatzung erlangte, besitzt er magische Fähigkeiten – genau wie 999 weitere „Mitternachtskinder“. Eines dieser Kinder, Shiva, der Sohn eines Straßensängers, entpuppt sich als teuflischer Gegenspieler – und als eigentlicher Saleem, denn die beiden wurden als Babys vertauscht. Auf magische Weise ist Saleems Biografie mit historischen Ereignissen verbunden, er ist „handcuffed to history“, mit Handschellen an die Geschichte gebunden. So erlebt er als Junge den Putsch hautnah mit, der zur Abspaltung Pakistans führen wird, und der in den 1970ern von Indira Gandhi verhängte Ausnahmezustand führt zu seiner Verhaftung und Sterilisierung.

Diese und unzählige weitere Ereignisse sind im Roman zu einer märchenhaften Erzählung verbunden, die auch durch ihre poetische Kraft aus der zeitgenössischen Literatur heraussticht. Als Bollywood-Fan setzt Rushdie zahllose Anspielungen auf den indischen Film ein. So küsst die Mutter des Protagonisten ihren Liebhaber nicht auf den Mund, sondern drückt die Lippen auf ein Glas, aus dem er zuvor getrunken hatte – auch im Bollywood-Film spielt der „indirekte“ Kuss eine Rolle.

Was sich aber im Buch als ironischer Verweis auf romantische Motive im Bollywood-Film liest, wird im Film zu einem Motiv ohne doppelte Bedeutung. Und das ist auch das Manko des gesamten Filmes: Ironie und Doppelbödigkeit der Vorlage sind nicht mehr aufzufinden. Während Saleem als Ich-Erzähler des Romans die eigenen Erlebnisse immer wieder in Frage stellt, ist das filmisch kaum umzusetzen. Eher als an die Vorlage erinnert der Film an Forrest Gump – statt magischer Momente ist eher eine wahllose Aneinanderreihung von Ereignissen zu sehen. Wer mit der indischen Geschichte nicht vertraut ist, hat kaum eine Chance, die Zusammenhänge zu begreifen – auch wenn der Ich-Erzähler durch eine Voice-Over-Stimme ersetzt wurde, im englischen Original gesprochen von Salman Rushdie selbst.

Rushdies magischer Realismus arbeitet mit surrealen Motiven, mit Metaphern, die plötzlich Wirklichkeit werden. Die multiethnische Mischung Indiens findet der Leser dann in den Chutneys widergespiegelt, die seine Protagonistinnen kochen. Muslimische Bekleidungsregeln für Frauen werden nicht einfach kritisiert, sondern karikiert. So darf ein Arzt seine Patientin nur durch ein Laken hindurch untersuchen, in das ein kleines Loch geschnitten wurde – und verliebt sich prompt in sie. Die Bedingungen, die die abziehenden Engländer an das nun unabhängige Indien stellen, werden durch ein paar britische Originale symbolisiert, die in Bombay bleiben – und dort weiterhin jeden Nachmittag um fünf ihren Tee zu sich nehmen.

Im Film bleibt von diesem Witz nur wenig übrig, müssen ironische (Sprach)Bilder wörtlich genommen werden. Das ist ein technisches Problem: Metaphern, die sich im Roman über viele hundert Seiten entfalten, müssen im Film schnell abgehandelt werden. Anstelle der verwirrenden Struktur des Romans steht jetzt eine chronologische Abfolge, überbordende Bilder werden nur kurz erwähnt statt wie im Roman übertrieben, aufgebläht, mit wilder Fabulierlust aufgebauscht zu werden. Anders wäre die komplexe Handlung nicht auf die Leinwand zu bringen. Auch so wurde schon arg gekürzt – und trotzdem dauert der Film immer noch stolze 140 Minuten. Wer das Buch gelesen hat, kann zumindest vergleichen – wer es nicht kennt, wird manchmal Schwierigkeiten haben, der Handlung zu folgen.

Zugleich fehlt das, was die Besonderheit dieses Romans ausmachte: seine Sprache. Weder die überbordende Fantasie und Fabulierlust, die sich in der Verwendung absurdester Sprachbilder ausdrückte und am besten in den unzähligen Gewürzmetaphern zum Ausdruck kommt, die Rushdie verwendet, noch die irrwitzige Mischung aus britischem Englisch und den Einflüssen der vielen indischen Sprachen sind hier noch zu erahnen.

Und noch etwas fehlt. Seine Bedeutung erhielt der Roman durch die zahlreichen Anspielungen auf politische, gesellschaftliche, soziale Zusammenhänge. Die „Mitternachtskinder“ im Roman sind nicht einfach ein Haufen Kinder, die zufällig zur gleichen Zeit geboren sind. Sie stehen für die verwirrende Vielfalt, die Indien ausmacht. Und sie bekämpfen sich schließlich nicht einfach aus Langeweile, nicht, weil sie Saleems Gegenspieler Shiva folgen. In ihren Kämpfen spiegeln sich ethnische und religiöse Konflikte Indiens wider. Denn eines der Leitmotive des Romans ist das Plädoyer für die Toleranz, die Absage an den Dogmatismus, der einem friedlichen Zusammenleben im Weg steht.

All das kann der Zuschauer freilich nur erahnen. Wer einfach schöne Bilder sehen will, ist mit diesem Film gut bedient. Wer einen ersten Einstieg in das Werk Salman Rushdies erhalten möchte, auch – für alles weitere sollte man das Buch lesen. Für sich selbst genommen ist der Film nicht ganz verständlich, zu unklar bleibt ohne das Gerüst der Sprache, was die Ereignisse eigentlich zusammenhält. Bilder und Metaphern, die nicht verständlich werden, erzählen leider keine Geschichte. Wenn der Film aber neugierig auf das Buch macht, ist das ja auch ein positiver Effekt. Die Vereinfachung ist trotzdem bedauerlich, aber vermutlich auch eine notwendige Folge der Leinwandadaption.

Mitternachtskinder

Eigentlich klappt es fast nie: Nur selten sind Romanverfilmungen so gut wie die Vorlage. Im Fall von „Mitternachtskinder“ ist die Anforderung besonders hoch: Der 1981 erschienene Roman des britischen Autors Salman Rushdie gilt nicht nur als Jahrhundertroman, als Prototyp der postkolonialen Literatur, sondern hat auch stilistisch neue Maßstäbe gesetzt.
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