Das Lied des Lebens

Eine Filmkritik von Bianka Piringer

Die wunderbare Ausdruckskraft alter Stimmen

Schließen alte Menschen und musikalische Experimente einander aus? Nein, sagt der Komponist Bernhard König und packt vor den Bewohnern eines Stuttgarter Seniorenheims ein ungewöhnliches Musikinstrument aus dem Koffer: raschelndes Herbstlaub. Während manche Berührungsängste haben, kommen andere schnell in Stimmung, Geräusche aus der Natur nachzuahmen. Bald sprechen einige unbefangen ins Mikrofon, singen ein paar Zeilen ihres Lieblingslieds. König besucht die Heimbewohner regelmäßig, manchmal bringt er Musikgruppen mit. Man singt, tanzt Tango. „Ach, macht das Spaß!“, sagt eine erblindete Frau, die entdeckt, dass sie noch Klavierspielen kann. Aus anfangs reserviert wirkenden Menschen macht der musikalische Dialog Persönlichkeiten mit strahlenden Gesichtern.
König hat sich schon während seines Studiums sehr für alte Stimmen interessiert. Sie mögen brüchig oder knarzig klingen, aber sie besitzen auch, findet er, eine besondere Ausdruckskraft. Doch erst 2010 gewann er mit der Stuttgarter Addy-von-Holtzbrinck-Stiftung einen Auftraggeber für sein Wunschprojekt: gemeinsam mit betagten Menschen auszuprobieren, wie sie sich in musikalischer Form mitteilen und einbringen können. Dazu dient auch sein mit zwei Kolleginnen gegründeter Kölner Experimentalchor „Alte Stimmen“, der nur Menschen ab 70 Jahren aufnimmt. Die Dokumentarfilmerin Irene Langemann (Rubljovka – Straße zur Glückseligkeit, Die Konkurrenten — Russlands Wunderkinder II) begleitete König zehn Monate lang zu seinen Proben in Stuttgart und Köln.

Im ständigen Wechsel der beiden Schauplätze verdichtet der Film die Treffen thematisch und beobachtet, wie König sich mit einzelnen Senioren auf die Suche nach ihrem persönlichen Lebenslied macht. Solche kleinen Stücke seiner Mitglieder verbindet der Kölner Chor am Schluss zu einem Konzert in der Essener Philharmonie. Die musikalische Performance erzählt von den Traumata der Kriegs- und Nachkriegsgeneration, aber auch von individuellen Geschichten wie der einer Frau, die ihren Ängsten mit einem Fallschirmsprung im Alter von 60 Jahren zu Leibe rückte.

Der Film widmet Königs tastendem Vorgehen und dem langsamen Vertiefen der Begegnungen viel Aufmerksamkeit. Dabei wird deutlich, wie viel wichtiger als das Ziel einer konkreten Aufführung für die alten Leute das gemeinsame Erleben ist. Beim Singen, Flüstern, Raunen, Zischen und beim Erzählen aus ihrem Leben entdecken sie ihre Lebendigkeit und das Vergnügtsein wieder.

Ein Heimbewohner, der seit einem Schlaganfall halbseitig gelähmt ist, kann nicht mehr wie früher Akkordeon spielen. Aber mit der rechten Hand beherrscht er das Keyboard, das König ihm bringt. So spielt er, von dem Jüngeren am Klavier begleitet, eine eigene Komposition von früher. Dann entsteht allmählich ein neues Stück, das die Veränderung seines Lebens durch den Schlaganfall thematisch einbezieht. Die blinde Frau sucht am Klavier nach Tönen und Akkorden für ihre Gefühle als vierjähriges Mädchen, das oben am Himmel vergeblich nach der toten Mutter Ausschau hielt. Eine andere Frau findet in einer Neuinterpretation des alten Liedes „Kann denn Liebe Sünde sein?“ zu später Befreiung aus erlittener Schmach.

Wenn die Alten scherzen und lachen, eröffnen sich auch dem Zuschauer neue Horizonte. Man bekommt vor Augen geführt, wie sehr sich in der scheinbaren Apathie und Zurückgezogenheit betagter Leute vor allem im Heim, aber nicht nur dort, die übliche gesellschaftliche Ausgrenzung spiegelt. Wenn jemand gebrechlich wirkt oder auch nur graue Haare hat und bedächtig spricht, spüren Jüngere womöglich schon reflexhafte Herablassung. Aber weil hier einer ernsthaft den Kontakt mit ihnen sucht, sind die alten Menschen auf einmal lebhafter und anregender, als man es aufgrund falscher Vorstellungen erwartet hätte.

Das Lied des Lebens

Schließen alte Menschen und musikalische Experimente einander aus? Nein, sagt der Komponist Bernhard König und packt vor den Bewohnern eines Stuttgarter Seniorenheims ein ungewöhnliches Musikinstrument aus dem Koffer: raschelndes Herbstlaub. Während manche Berührungsängste haben, kommen andere schnell in Stimmung, Geräusche aus der Natur nachzuahmen. Bald sprechen einige unbefangen ins Mikrofon, singen ein paar Zeilen ihres Lieblingslieds.
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Meinungen

Timu · 21.01.2013

Ein wunderbarer, überraschender, sehr berührender Film, der lachen und weinen macht, dabei kein bißchen sentimental. Selbst als Zuschauer im Kino wird man angesteckt von der neu oder wieder gewonnenen Lebensfreude der Protagonisten. Die oft traumatischen Ereignisse aus deren Leben werden nicht beschönigt und nicht dramatisiert. Sie werden in Musik verwandelt: das ist wie ein erlösender Zauber.
Unbedingt ansehen!