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Mut zur Lücke: Citizen Kane

Ein Beitrag von Sebastian Seilder

Eigentlich sollte man alles gesehen haben, am besten die gesamte Filmgeschichte. Hat man aber nicht. Autorinnen und Autoren erzählen in dieser Reihe über eben jene ungesehenen Filme, über die man gerne schweigt. Den Anfang macht: Citizen Kane.

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Mut zur Lücke

Der Kanon ist eine Aufforderung. Alles will und muss gesehen werden. Wenn man zudem noch in oder am Rande der Filmbranche arbeitet, sieht man sich schnell einem lähmenden Imperativ ausgesetzt, der sich in einer oftmals mit großer Fassungslosigkeit vorgetragenen Frage niederschlägt: „Was, du kennst DIESEN Film nicht?“ Das ist unangenehm. Vor allem, wenn es um die großen Klassiker geht. Ohne Werk XYZ zu kennen, könne man ja nicht an Filmen oder mit ihnen arbeiten. Aber hat nicht jeder diese Lücken in seiner Sehbiographie? Was sind die Gründe für den jeweiligen blinden Fleck? Und wie klaffen Erwartung und Werk schließlich auseinander, wenn man dann doch einen dieser sogenannten Must-See-Filme sieht? Kino-Zeit beweist Mut zur Lücke: Aus ungesehenen Geschichten werden Texte über die größten Lücken; aus den Lücken schreibt es sich mit frischer Perspektive. Den Anfang macht der Hollywood-Klassiker schlechthin: Citizen Kane. Wie, den hat Sebastian Seidler noch nicht gesehen?  

 

### Vor dem Film ###

Citizen Kane. Ich gestehe. Ich habe diesen Film nicht gesehen. Wenn Sie nun denken, es sei eine Erleichterung, das hier nun auszuschreiben, täuschen Sie sich. Es schmerzt auf eine ganz lächerliche Art und Weise. Wie kann man über Kino und Film schreiben und ausgerechnet diesen Film, der von Kolleg_Innen auf der ganzen Welt regelmäßig zum besten aller Zeiten gewählt wird, nicht gesehen haben? Die Frage stelle ich mir durchaus auch. Sofort stellt sich der Anflug eines schlechten Gewissens ein, das sich im selben Atemzug in eine trotzige Haltung verwandelt: Wenn doch schon so viele diesen Film gesehen haben und Rosebud am Ende eben (nur) ein Schlitten ist, warum muss ich den Film dann unbedingt auch noch gesehen haben?

Ein guter Film bleibt natürlich ein guter Film, und in mir drin – ich liebe das Kino – gibt es diese kindliche Sehnsucht danach, alle guten Filme zu sehen. Da ist die Hoffnung, dass ein neuer Film mich wieder entführen möge, so wie es die Filme in der Kindheit getan haben. Als ich das erste Mal E.T. gesehen habe, da war es, als würde ich in diese Welt eintauchen, darin leben und atmen und weinen. Ich konnte alles um mich herum vergessen, mich wegträumen und in eine Gemütlichkeit einwickeln, die sich proportional zur Spannung der Geschichte verstärkte. Wenn dies später im Erwachsenenalter noch passiert, dann müssen es ganz besondere Filme sein – zumindest ist es ein sehr persönlicher Indikator.

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Citizen Kane, da bin ich mir sicher, könnte so ein Film sein. Und dennoch ist da dieser Trotz: Wenn eine Sache schon derart gehyped ist, bereits in aller Munde zerkaut, verliere ich oftmals das Interesse. Vielleicht weil daneben, neben dem bejubelten Werk, ein unscheinbares Juwel liegt, bei dem der Zauber weniger offensichtlich ist. Diese kleinen Filme, die in ihren eigenen Kaninchenbau führen, werden nicht selten vom anerkannten Geschmack verdeckt. Außerdem mag ich kleine Fehler, den Versuch und das Gegen-den-Strich.

Citizen Kane ist mir immer nur als Unfehlbarkeit begegnet. Während des Studiums gab es kaum einen Text über das Kino, in dem nicht über Orson Welles‘ Großwerk geschwärmt wurde, dessen technische Finesse betont und natürlich die Sache mit der Tiefenschärfe hervorgehoben wurde. Für die Filmgeschichte war das eine technische Revolution. Fürwahr. Doch stellte sich mir immer die Frage, ob es darüber hinaus noch etwas zu entdecken gibt, das die Sinne reizt.

Im akademischen Kontext, in dem ich mich für Film interessiert habe, zog es mich eher zu Werken, mit denen die Professoren so ihre Probleme hatten: The Texas Chainsaw Massacre, The Thing oder das Schaffen von Gaspar Noé. Gibt es zu viel Lobgesang auf ein Werk, dann gehe ich mit großer Sicherheit auf Distanz. Das war schon immer so und ist nicht nur auf den Film bezogen. Und so war es dann auch mit Citizen Kane: Ich empfand es als aufdringlich und bürgerlich, wie einfach so gesetzt wurde, dass an diesem Film nicht gezweifelt werden dürfe. Hinzu kommt, dass ich ein Problem mit jeglicher Form von Kanonisierung habe und mir kaum ein Argument so verhasst ist, wie die Aussage, dass es ohne X kein Y geben würde. Meine Antwort: Dann hätte das mit der Tiefenschärfe eben jemand anders ebenso so virtuos umgesetzt. Ohne X vielleicht Z.

Um es abzukürzen: Diese, meine große Lücke erzählt sehr viel über meine Liebe zum Film. Ich muss Citizen Kane nicht kennen, um das Kino zu verstehen, weil das Kino in jedem einzelnen Film steckt, in der konkreten Form einer Geschichte und seiner Bilder. Der Film ist zu komplex, um ihn auf Filmgeschichte zu reduzieren – jeder Film hat immer schon seine eigenen Filmgeschichten. Das ist nur meine Perspektive. Aber über Citizen Kane haben doch wahrlich schon genug Leute geschrieben. Oder?

 

### Nach dem Film ###

Meine Lust auf den Film hielt sich in Grenzen. Das muss ich schon zugeben. Als ich die DVD in den Player legte, fühlte sich das schon sehr nach Pflichterfüllung an, irgendwie kratzig und träge. Dann fällt die Schneekugel zu Boden, und Kane spricht die berühmten Worte: „Rosebud“. Der große Medienmogul ist tot, aber wer war er? Ein Fernsehbeitrag fasst das Leben in dem zusammen, was wir Biografie nennen. Da sind sie, die Fakten eines Lebens, wie an einem Faden geschnürt. Eben jene Ordnung wird dann sofort infrage gestellt. Der kleine Film im Film wird in der Redaktion eines Senders diskutiert. Die Kritik: Man würde nichts Neues über Kane erfahren. Aber was waren noch mal seine letzten Worte? Wenn man doch nur wüsste, wer oder was Rosebud ist, dann hätte man ein Geheimnis gelüftet. Vielleicht stößt man dann auf den echten Mann hinter dem Mythos.

Und so beginnt Citizen Kane als Detektivgeschichte, die durchaus Züge des Film Noir trägt. Der Journalist trifft alte Weggefährten und Ex-Frauen und fächert über deren Erzählungen ein komplexes Leben auf, das sich nicht in eine Form bringen lässt. Spätestens dann, als diese Ermittlungen losgehen, hat mich der Film in seinen Fängen: Die Lichtgestaltung und die leicht mysteriöse Atmosphäre ziehen mich in ihren Bann. Und ich möchte nun auch wissen, wer dieser Charles Foster Kane war.

Wer ist dieser Mann?   © Arthouse

Die Antwort des Films: Er ist alles und nichts. Eine charismatische Lichtgestalt, ein Schuft, ein tragischer Kämpfer für das Gute und ein von Machtgier zerfressener Klotz. Die Person ist wie ein Kristall, in dem sich das Licht bricht. Und das ist schon beeindruckend, wie Welles es schafft, dass wir diesem Kane folgen, zwischen Faszination und Abscheu schwankend den Berichten über ihn lauschen und in Perspektiven eintauchen, die niemals ein komplettes Bild ergeben. Bis zum Ende. Selbst Rosebud fügt diesem Charakter nur einen weiteren, wenn auch tragischen Pinselstrich hinzu: Der Schlitten aus der Kindheit verbrennt im Feuer, die Trennung von der Mutter hat Kane niemals überwunden. 

Wie diese Vielschichtigkeit auch in nahezu jedem Bild aufgegriffen wird und die Figuren sich im Bildraum verteilen, Rahmen erzeugen, in denen immer neue Details zu erkennen sind – da haben wir die meisterhafte Verwendung der Tiefenschärfe. Selten lenkt Welles unseren Blick. Er lässt ihn vielmehr wie einen Pingpong-Ball durch seine Bilder springen. So wird jedes Bild für sich eine Frage nach den Verhältnissen, alles ist Relation, und wir können unsere Augen über eine Landschaft aus Personen schweifen lassen.

Damit wäre diese Lücke nun also geschlossen. Und ja, Citizen Kane ist ein Meisterwerk. Und ich war vielleicht ein Ignorant oder zumindest starrköpfig. Die gute Sache ist allerdings, dass es nie zu spät ist, Filme zu entdecken und die eigenen Lücken zu erkunden. Filme laufen selten weg.

Wie, Sie haben diesen Film noch nicht gesehen? Dann freuen Sie sich darauf.   

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